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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Autoren: Myrna E. Murray
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zurückhaltend, nachdem er in den Raum getreten ist und die Tür hinter sich geschlossen hat. „Wie geht’s dir?“
    „ Soweit ganz gut. Ich heile schnell, weißt du.“
    Er nickt langsam. „Das habe ich gesehen.“ Er schweigt und ist überhaupt irgendwie ... zurückhaltend.
    Wir bleiben wo wir sind und sehen uns einfach nur in die Augen. Schweigen entsteht – tiefes Schweigen. Er betrachtet mich und ich lasse es geschehen. Es arbeitet hinter seiner Stirn.
    „ Zeig’s mir nochmal“, sagt er leise.
    „ Was genau?“, erwidere ich genauso leise.
    „ Dein wahres Gesicht.“
    Wieder sehe ich ihn an und ganz langsam lasse ich ihn genau das sehen.
    Meine Augen lassen sein Gesicht nicht außer Acht, während ich ihn beobachte, wie er mich beobachtet. Sein Gesicht verrät jedoch nicht, was hinter seiner Stirn abläuft, und ich habe auch keine Lust es zu lesen.
    „ Es ist schon merkwürdig“, beginnt er murmelnd.
    „ Was genau?“
    „ Die Art, in der du dich veränderst.“
    „ Aha.“
    Er macht einen Schritt auf mich zu. „Es sind nur Kleinigkeiten, aber deren Wirkung ist erstaunlich.“
    Ich lege ein leises Lächeln auf, das meine Eckzähne deutlich zeigt. „Bist du dir bewusst, wie merkwürdig du dich anhörst?“, schmunzele ich.
    „ Bist du dir bewusst, wie schön du bist?“
    „ Ist das so?“
    „ So ist es. Auch wenn du jetzt noch attraktiver bist als vorher.“
    Er kommt noch einen Schritt näher. „Ich würde sagen, es unterstreicht deine natürliche ... Noblesse.“
    So habe ich das noch nie gesehen. Ich ziehe meine Zähne zurück, denn auf Dauer sind sie mir im Weg. Die Wärme seines Körpers ist bis zu mir herübergedrungen und mit ihr kommt sein Geruch. Ich hebe die Hand in seine Richtung. Er sieht sie an, reagiert jedoch nicht.
    „ Bist du dir bewusst, dass du gerade sehr widersprüchliche Signale sendest?“ Mit einem zwinkernden Augenaufschlag sehe ich ihn an.
    „ Widersprüchliche Signale?“ Er ist verwundert.
    „ Ja.“
    „ Inwiefern?“
    „ Deine Körpersprache und deine Worte sind nicht identisch. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob du mich leidenschaftlich umarmen oder lieber die Flucht ergreifen möchtest.“ Ich lege den Kopf schief und schenke ihm einen fragenden Blick. „Liege ich damit in etwa richtig?“
    Er antwortet mit einem eindeutig verblüfften Blick und fährt er fort: „Ich muss gestehen, dass mich deine Vorstellung gestern ... verunsichert hat.“
    Ich sehe ihn an. „Was genau?“
    Wieder sieht er mich nur an. „Es ist kompliziert zu beschreiben.“ Er nimmt seine Brille ab und putzt sie, bevor er sie wieder aufsetzt. „Es sind so viele kleine Dinge. Zum Beispiel die Art, wie du Morgan …“, er zögert und ich helfe ihm.
    „ Angefallen ist, glaube ich, das Wort, das du suchst.“
    Er runzelt kurz die Stirn, ganz so, als wäge er ab, ob der Begriff juristisch korrekt ist. Aber er verliert den Kampf gegen sich selbst und benutzt es dann doch. „… angefallen hast.“
    Ich nicke. „Okay.“
    Für den Bruchteil einer Sekunde kann ich erkennen, was hinter seinen Augen wütet. Es ist eine Mischung aus Faszination, Angst und Vorfreude auf das Unbekannte.
    „ Du hast anscheinend lange darüber nachgedacht“, beginne ich vorsichtig, um ihm den Raum zu lassen, den er braucht.
    Er nickt langsam. „Ich konnte keinen Schlaf finden und hatte quasi den ganzen Tag Zeit dazu.“
    „ Ist das der Moment, in dem du mir sagen willst, dass das nichts wird mit uns beiden?“ Langsam geht mir der Eiertanz auf die Nerven.
    Er sieht mich an. „Ist es wirklich so einfach?“
    „ Allerdings.“
    Er schweigt. Ich sehe ihn an. Sehe das Potenzial, das er entwickeln könnte, und den Drang, ein Leben zu führen, wie es ihm gefällt. Frei von dem Zwang sich den Gelüsten eines anderen unterzuordnen und hinter ihm aufzuräumen. Ich sehe das lang unterdrückte Bedürfnis nach Leben und den tiefen Wunsch nach Freiheit, der allen Lebewesen innewohnt, die sich einen Teil ihrer natürlichen Wildheit bewahrt haben.
    Er hat Blut geleckt und das nicht nur im nicht-wörtlichen Sinne. Er scheint wie ein wildes Tier, das noch nicht begreifen kann, dass die Käfigtür offen ist und ihm nicht wieder vor der Nase zugeschlagen werden wird. Sein Ablöseprozess aus den vertrauten Gedankenwelten hat begonnen, er ist aber noch nicht überzeugt davon, dass diese Freiheit Realität ist beziehungsweise sein wird. Beinahe tut er mir leid, aber bei diesem Prozess kann ich ihm nicht helfen.
    Plötzlich
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