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Die Stunde der Wahrheit

Die Stunde der Wahrheit

Titel: Die Stunde der Wahrheit
Autoren: Raymond E. Feist
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Eins
    In der Falle

    Ein Schrei schallte durch das Haus.
    »Mara!«
    Buntokapis Wut zerstörte die morgendliche Ruhe wie der Angriff eines Needra-Bullen. Mara zuckte zurück. Instinktiv warf sie einen Blick auf die Krippe neben ihr. Der kleine Ayaki schlief noch, er ließ sich durch das Gebrüll seines Vaters nicht stören. Seine Augen waren fest geschlossen, und seine strammen Glieder hatten sich in seinen Decken verfangen. Nach zwei Monaten hatte sich das Kind an Buntokapis Brüllen gewöhnt und konnte in einem Gewittersturm schlafen. Mara seufzte. Der Sohn war ganz der Vater, mit einem dicken Körper und einem klobigen Kopf, der seiner Mutter Grund genug gegeben hatte, den Tod herbeizusehnen, als er geboren wurde. Die ungeheure Anstrengung hatte Mara in einer Art und Weise ausgelaugt, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. Trotz ihrer achtzehn Jahre fühlte sie sich wie eine alte Frau, immerzu müde. Und der erste Anblick ihres Sohnes hatte sie traurig gestimmt. Sie hatte insgeheim auf ein geschmeidiges, gutaussehendes Kind gehofft, eines, das ihrem Bild von Lano als Baby ähnelte. Statt dessen hatte Buntokapi ihr eine rotgesichtige, rundköpfige kleine Bestie vermacht, mit einem Gesicht, das so faltig war wie das eines alten Mannes. Vom ersten Augenblick an, da es seine Lungen mit Luft gefüllt hatte, war ihm ein Schrei eigen, der seinem Vater Konkurrenz machen konnte, und schon jetzt hatte er das gleiche mürrische Gesicht. Trotzdem empfand Mara nichts als Liebe für Ayaki, wenn er schlief. Er ist auch mein Sohn, dachte sie, und das Blut seines Großvaters ist in ihm. Die Eigenschaften, die er von den Anasati geerbt hatte, wollte sie ihm abgewöhnen und statt dessen jene von den Acoma anerziehen. Er würde nicht wie sein Vater werden.
    »Mara!« Buntokapis gereizter Ruf klang jetzt sehr nah, und im nächsten Augenblick wurde auch schon der Laden zum Kinderzimmer des Jungen zurückgestoßen. »Hier bist du also, Frau. Ich suche dich bereits im ganzen Haus.« Buntokapi trat mit einer finsteren Miene ein, die an eine Sturmwolke erinnerte.
    Mara verneigte sich gelassen. »Ich war bei unserem Sohn, Buntokapi.«
    Buntokapis Ausdruck wurde etwas gelöster. Er ging zur Wiege, wo der Junge lag, der jetzt vom lauten Eintreten seines Vaters unruhig war. Buntokapi streckte ihm seine Hand entgegen, und einen Augenblick lang fürchtete Mara, er könnte die schwarzen Haare des Jungen kraulen, wie er es bei seinen Hunden tat. Statt dessen rückte seine fleischige Hand zärtlich die Decke zurecht, die zusammengeknittert zwischen den winzigen Beinen lag. Die Geste erfüllte Mara mit einer spontanen Zuneigung zu Buntokapi, aber sie drängte solche Gefühlsaufwallungen rasch zurück. Auch wenn er den Mantel der Acoma trug, war Buntokapi ein Sohn der Anasati, eines Hauses, dessen feindselige Einstellung gegenüber den Acoma kaum geringer war als die der Minwanabi. Tief in ihrem Herzen wußte Mara das. Und bald würde die Zeit gekommen sein, dies zu ändern.
    Übertrieben flüsternd, denn Ayaki war ein guter Schläfer, fragte sie: »Was möchtet Ihr, mein Gemahl?«
    »Ich muß nach Sulan-Qu … äh, geschäftlich.« Mit einstudierter Gleichgültigkeit richtete Buntokapi sich vor der Wiege auf. »Ich werde heute nacht nicht zurückkehren und vielleicht auch morgen noch nicht.«
    Mara verneigte sich fügsam; ihr entging die Hast nicht, mit der ihr Mann wieder aus dem Zimmer verschwand. Sie benötigte keinen besonderen Scharfsinn, um zu erkennen, daß es keine Geschäfte für ihren Mann in Sulan-Qu zu erledigen gab. Während der vergangenen zwei Monate war sein Interesse an allem Geschäftlichen drastisch gesunken, bis an die Grenze offener Vernachlässigung.
    Nachdem Jican die Kontrolle über die Verwaltung der Acoma-Güter wieder übernommen hatte, hielt er seine Herrin immer auf dem laufenden. Buntokapi trieb weiterhin Unfug mit Keyokes Organisation der Krieger: welche Männer befördert wurden und zu welchem Rang. Mara, die kaum in der Lage war, einen kleinen Teil derjenigen Angelegenheiten zu beeinflussen, die den Haushalt betrafen, konnte nichts dagegen tun – zumindest jetzt noch nicht.
    Sie starrte voller Abscheu auf ihre Stickerei und war froh darüber, daß sie während Buntokapis Abwesenheit nicht des äußeren Scheines wegen weiter daran arbeiten mußte. Immer dringender benötigte sie Zeit dafür, über die Zukunft nachzudenken und einen Plan zu schmieden. Der mißtrauische Charakter ihres Mannes war für sie
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