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Nachtblind

Nachtblind

Titel: Nachtblind
Autoren: John Sandford
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die Szene rein, okay?«
     
     
    Alie’e wartete geduldig, bis ihr Mund frisch geschminkt war, starrte abwesend am Ohr der Maskenbildnerin vorbei, während noch ein wenig Farbe in die linke Ecke ihrer Unterlippe getupft wurde. Jax flüsterte ihr ins Ohr: »Ich liebe dich. Du siehst toll aus, und du machst das prima.« Alie’e hörte ihn kaum. Im Geist hatte sie das Bild vor Augen, wie sie gleich die Planke hinuntergehen würde – eine Vision von sich selbst, die jedoch in Plains Fantasie entstanden war.
    Als ihr Mund perfekt war, ging sie zurück zur Startmarkierung. Jax verzog sich in den Hintergrund, und als Plain das Startkommando gab, bemühte sich Alie’e um den richtigen Gesichtsausdruck, startete mit schlaksigen, hüftschwingenden Schritten den Gang über die Planke, platzte über die Markierung in die Szene, das grüne Kleid wirbelte um ihre Hüfte, und die orange-gelben Funken des Schweißbrenners zuckten hinter ihr auf. Der Gestank und der Rauch des glühenden Metalls umgaben sie, als Plain, hinter der Kamera stehend, das Blitzlichtgewitter auslöste.
    »Besser«, sagte Plain und trat auf Alie’e zu. »Ein scheißbisschen besser.«
     
     
    Sie hatten inzwischen zwei Stunden im Rumpf des Frachtkahns gearbeitet. Der Kahn war eine kostenlose Leihgabe. Der Steuermann des in griechischem Besitz befindlichen Schleppers Treponema hatte nicht auf gepasst, und der Kahn war gegen das Widerlager einer Brücke geprallt. Man hatte den beschädigten Kahn zur Reparaturwerft Anshiser in St. Paul bugsiert, wo Schweißer die verbeulten äußeren Rumpfplatten abtrennten und Vorbereitungen trafen, neue Platten anzubringen. Auf der Suche nach geeigneten Orten für seine Fotos war Plain auf den ausgeweideten Rumpf gestoßen. Er machte einen Deal mit der Firma Archer Daniels Midland, der Besitzerin des Kahns: Hinausschieben der Reparaturarbeiten um eine Woche, als Gegenleistung Namensnennung der Firma im Modejournal Vogue . Die Leute an der Spitze der Firma sahen zunächst nicht ein, warum eine Reparaturwerft Wert auf die Nennung ihres Namens in der Vogue legen sollte, aber die Damen in der Publicity-Abteilung kriegten bei dieser Perspektive nasse Höschen, also stimmten die Chefs zu, und der Deal wurde gemacht.
     
     
    Sie arbeiteten immer noch mit dem grünen Kleid, als ein Team von TV3 erschien, und man legte erst einmal eine Pause ein. Dann posierte Alie’e vor der TV-Kamera, zeigte ein wenig mehr Haut, tauschte mit Jax einen langen, langsamen, kieferrollenden Zungenkuss, den sie auf Wunsch des Fernsehteams zweimal wiederholten, einmal davon als Silhouetten-Aufnahme. Der Interviewer von TV3, ein ehemaliger Leichtathlet mit eckigem Kinn, gebleichten Zähnen und einem Lächeln, das er Vor seinem Badezimmerspiegel bis zur Perfektion einstudiert hatte, meinte nach dem Abschalten der Kamera: »Ereignisloser Tag heute. Ich denke, wir bringen das als Erstes in den Nachrichten.«
    Niemand fragte, wieso dieser Bericht als »Nachricht« gebracht werden sollte; ihr ganzes Leben drehte sich um Kameras, und sie gingen einfach davon aus, dass es nun einmal so war.
     
     
    Zwei Stunden für verschiedene Aufnahmen, mit und ohne Windmaschine, zwei Rollen hoch auflösenden Fujichrome-Films für jede Aufnahme. Der Fuji würde die Farben zum Leuchten bringen. Plain erklärte schließlich, dass er mit den Aufnahmen im grünen Kleid zufrieden sei, und sie gingen zur nächsten Szene über.
    Dabei ging es um ein zerrissenes T-Shirt und eine Damenunterhose im Herren-Look, einschließlich Schlitz an der Vorderseite. Alie’e und Jax gingen zum entfernten Ende des Rumpfes, wo es ein wenig Schatten gab, und Alie’e drehte dem Fototeam den Rücken zu und zog das grüne Kleid aus. Sie war völlig nackt unter dem Kleid; jedes Wäschestück hätte den eleganten Fall des Kleides gestört.
    Sie war sich ihrer Nacktheit bewusst, deswegen jedoch keinesfalls irgendwie befangen, wie sie es früher einmal gewesen war. Bei ihren ersten Jobs hatte sie als eines unter mehreren Models in einer Gruppe gearbeitet, und sie zogen sich normalerweise alle gleichzeitig um; sie war einfach nur eine Nackte unter anderen gewesen. Als sie immer höher auf der Karriereleiter geklettert war und individuell Aufmerksamkeit erregt hatte, war sie an das Nacktsein in der Öffentlichkeit gewöhnt wie eine Stripteasetänzerin.
    Sogar mehr als das. Sie hatte in Europa gearbeitet, in Deutschland, und völlige Nacktheit war dort in der Modebranche keinesfalls unüblich. Sie
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