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Nachtblind

Nachtblind

Titel: Nachtblind
Autoren: John Sandford
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erinnerte sich gut an das erste Mal, als man ihr Schamhaar für eine Nacktaufnahme hergerichtet und gebürstet hatte. Der Mann mit der Bürste, in den Dreißigern, war vor ihr in die Hocke gegangen, hatte während der Arbeit seelenruhig seine Zigarette weitergeraucht und schließlich mit einer Frisörschere ein paar schnelle Kürzungen vorgenommen – all das mit der emotionalen Gleichgültigkeit, die ein Briefträger auf das Sortieren auszutragender Briefe verwendet. Dann hatte der Fotograf das Werk begutachtet und ein paar zusätzliche Schnipseleien empfohlen. Ihr Körper hätte ebenso gut ein Apfel sein können.
    Privatsphäre gefällig? Dann dreh den Gaffern den Rücken
zu …
     
     
    Alie’e Maison – »Ah-lie-ay Maison« – war als Sharon Olson in Burnt River, Minnesota, zur Welt gekommen. Bis zum siebzehnten Lebensjahr wohnte sie mit ihren Eltern und dem Bruder Tom in einem stationären Aluminium-Wohnwagen direkt neben dem Highway 54, rund vierzehn Meilen südlich der kanadischen Grenze. Sie war ein hübsches Baby: Im Alter von einem Jahr gewann sie einen »Hübsches-Baby-Preis« – sie war kurz vor Halloween geboren worden, und ihr Kostüm ein Jahr später bestand aus einem Stoff-Kürbis, den ihre Mutter auf der Singer-Nähmaschine für sie zusammengebastelt hatte. Ein Jahr danach erwatschelte Sharon sich den »Hübsches-Watschel-Kleinkind-Preis« des Staates Minnesota. Bei diesem Wettbewerb war sie im schwarz-goldenen Kostüm eines Leuchtkäfers aufgetreten.
    Im Alter von drei Jahren begann sie mit Benimm- und Tanzunterricht, mit vier kamen Gesangsstunden dazu. Mit fünf gewann sie den »Elfen-Stepptanz-Wettbewerb« für Kinder im Alter bis zu fünf Jahren im Großbezirk Mittlerer Norden. Nach diesem Muster ging es weiter: Miss Junior North Country, International Miss Snow (Bezirk International Falls und Fort Francis, Kanada), Miss Border Lakes … Sie sang und tanzte sich durch ihre Schulzeit. Ihre Eltern Lynn und Lil wagten kaum davon zu träumen, aber Miss Minnesota, ja selbst Miss America schien erreichbar zu sein. Zumindest bis sie vierzehn würde.
    Als die Brustgrößengene im Himmel verteilt worden waren, hatte Alie’e sich gerade in die Schlange eingereiht, in der zusätzliche Schönheitsgene für die Augen ausgegeben wurden. Das zeigte sich, als ihre Freundinnen in der Junior-Highschool anfingen, über ins Fleisch schneidende Büstenhalterträger zu klagen. Bei Alie’e war das nicht so. Und die besten Freunde der Olsons, Ellen und Bud Benton, sagten – Bud sagte es, um bei der Wahrheit zu bleiben: »Nix mit Miss Minnesota ohne dicke Titten, ist doch klar, oder?«
    Aber wie sich zeigte, spielte die Größe der Brüste keine entscheidende Rolle. Im Sommer des sechzehnten Lebensjahres ihrer Tochter brachten Lynn und Lil sie zu einer Model-Agentur in Minneapolis, und der Agent war sehr angetan von dem, was er da sah. Alie’e hatte markant vorstehende Wangenknochen und wunderschöne jadegrüne Augen. Sie schienen ihr von Gott persönlich geschenkt worden zu sein, als Teil eines Pakets, zu dem noch hübsches weißblondes Haar, ein lupenreiner Teint, zarte, Schutzinstinkte wachrufende Schultern und eine so schmale Hüfte gehörten, dass sie wohl Schwierigkeiten haben würde, ein Objekt von der Dicke eines Bindedrahts zu gebären.
    Auf dem Weg zwischen Minneapolis und New York ging Sharon Olson verloren, und Alie’e Maison schlüpfte in ihr Kleid der Größe sechs. Sie war inzwischen so berühmt, dass sie den Gartendienstbetreiber Louis Friar zur Person mit dem zweithöchsten Berühmtheitsgrad in Burnt River machte. Eines Abends, als Alie’e in der zehnten Klasse war, entjungferte Friar sie im Gras neben der First-Base-Line auf dem Spielfeld der American Legion an der Bergholm Road – auf einer Luftmatratze, die er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte.
    Louis redete nicht darüber. Er bestätigte nicht einmal, dass es passiert war. Er behielt die Erinnerung an das Ereignis in bierseliger Ehrfurcht für sich. Nicht so Alie’e: Sie erzählte es jedem, der es wissen wollte, und so wusste jeder in Burnt River davon, auch von dem Detail, dass Louis im kritischen Moment laut »oh Gott oh Gott oh Gott oh Gott« geschrien hatte, was wiederum dazu führte, dass man ihn in der Stadt nur noch »Reverend« nannte. Friar meinte, der Spitzname beruhe auf seinem Nachnamen in der Bedeutung »Mönch« und spiegele die Vorliebe der Einwohner Burnt Rivers für Wortspiele wider. Niemand klärte ihn je über
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