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Nachtblauer Tod

Nachtblauer Tod

Titel: Nachtblauer Tod
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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wusste er, dass es um ihn und seine Familie ging. Das Wissen kam nicht aus seinem Verstand, es wurde dort nur verarbeitet. Es stieg aus der Tiefe seines Körpers in sein Bewusstsein.
    Sein Magen krampfte sich zusammen. Seine Wirbelsäule schien zu glühen und die Haarwurzeln der Kopfhaut auch. Er hatte plötzlich einen metallenen Geschmack im Mund und einen Verwesungsgeruch in der Nase, zu dem die Augen keine passenden Bilder lieferten. Ein Kribbeln wie ein Jucken unter der Haut, gegen das kein Kratzen half, jagte durch seinen Körper.
    Leon rannte los. Es war eine unbestimmte Angst, die ihn trieb. Dann erblickte er die Polizeiautos in diesem dummen Blauton mit den silbernen Streifen. Die Farben erinnerten ihn mehr an einen Partylieferservice als an die Polizei. Trotzdem gab sein Verstand den Körperorganen recht. Etwas Schreckliches war geschehen.
    Ein paar Schritte schaffte Leon noch, dann, beim Hotel Haverkamp, begann er zu wanken. Die Bilder trudelten vor seinen Augen. Die Wirklichkeit verschwamm, als hätte ihm jemand eine Droge ins Essen gemischt oder als ob das Gehirn nicht mehr genügend Sauerstoff bekommen würde.
    Zwischen den Polizei- und Rettungswagen standen Menschen wie Schattenwesen. Eine Schockwelle schien ihnen die Seelen aus den Körpern gejagt zu haben. Jetzt waren sie zu Kleiderständern aus Fleisch und Blut geworden. Sie atmeten zwar noch, aber sie schienen nicht wirklich zu leben.
    Oma Schröder zum Beispiel, aus der Parterrewohnung links, mit ihren drei Katzen, die sie vergötterte, stand – was sie noch nie getan hatte – in Pantoffeln und Bademantel mit wirren Haaren auf der Straße. Sie achtete sonst sehr auf ihr Aussehen. Korrekte Kleidung war ihr wichtig. Ihre silbergrauen Haare wurden alle drei Wochen vom Frisör gepflegt.
    Sie hatte viel Zeit und fing etwas Sinnvolles damit an. Sie besuchte kranke und einsame Menschen und arbeitete ehrenamtlich in einem Verein, der sich um vernachlässigte alte Menschen kümmerte. Jetzt wirkte sie, als ob sie selbst einen Betreuer bräuchte, wie eine verwirrte alte Dame, die nicht mehr alleine klarkam.
    Oder Kai Olschewski, der vier Jahre lang arbeitslos war und in der Zeit begonnen hatte, Bodybuilding zu machen. Inzwischen hatte er ein eigenes Studio eröffnet, eine neue Freundin, ein neues Auto und ein ständiges Grinsen im Gesicht. Er sah in seinen Gym-Trainingssachen immer ein bisschen aus wie ein aufgeblasener Barbie-Ken.
    Aber jetzt war sein Grinsen einem kraftlosen Ausdruck gewichen, als seien seine Gesichtsmuskeln gelähmt. Seine Hände zitterten. Seine Lippen waren blass und schmal. Die neue Frau an seiner Seite, Kim, hätte sich, so wie sie jetzt aussah, besser bei Bauer sucht Bäuerin als bei Wer wird Deutschlands Top-Model beworben. Sie war um Jahre gealtert, und obwohl sie voll geschminkt war, wirkte sie wie gerade aus dem Kanal gezogen.
    Zwei Männer in weißen Schutzanzügen, deren Gesichter durch Kapuzen und Mundschutz verborgen waren, gaben der Szene zusätzlich etwas Gespenstisches. Auf ihren Rücken stand in schwarzen Buchstaben Kriminaltechnik . Einer von ihnen trug einen silbernen Koffer, der offensichtlich schwer war, denn der Mann ging, als ob der Koffer ihn links nach unten ziehen würde. Dann wechselte er ihn in die andere Hand.
    Leon wollte ins Haus, aber ein Herr im grauen Anzug mit schlecht sitzender roter Krawatte hielt ihn auf und redete auf ihn ein.
    Erst als das Handy von dem Schlipsträger den Radetzkymarsch ertönen ließ und die anschwellende Musik ihn dazu brachte, ranzugehen, lief der Kriminaltechniker erleichtert ins Haus.
    Leon konnte jetzt genauso wenig atmen wie damals im Eiswasser, nur: diesmal konnte sein Vater ihm nicht helfen, denn der wurde selbst auf einer Trage aus dem Haus gebracht. Seine Nase sah seltsam spitz und weiß aus. Sein Haar wirkte schütter. Sein Spitzname war Elvis, wegen seiner Haartolle, aber niemand wäre jetzt auf die Idee gekommen, ihn so zu nennen. Wie ein ausgeknockter Boxer wurde er nach dem k.o. aus dem Ring getragen. Ein Sanitäter kaute Kaugummi. Dieses Bild prägte sich Leon ein.
    Holger Schwarz wurde auf der Trage in den Rettungswagen geschoben. Jetzt war für Leon klar, dass sein Vater mit jemandem gekämpft hatte, und ganz offensichtlich hatte er verloren.
    Leon hatte Mühe, aufrecht zu stehen. Er spürte seine Beine nicht mehr. Er stand wie auf Watte. Niemand sprach ihn an, es war, als wäre er ein völlig Unbekannter.
    Träume ich das alles nur?, dachte er. Hat mich die
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