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Geliebter Normanne

Geliebter Normanne

Titel: Geliebter Normanne
Autoren: Rebecca Michéle
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Prolog
    Im Südosten Englands, 14. Oktober 1066
    H eftiger Wind zerrte an den geschlossenen hölzernen Fensterläden. Der Luftzug, der durch die mit Lappen nur notdürftig verstopften Ritzen drang, ließ die Flammen der Talglichter unruhig flackern. Trotz der offenen Feuerstelle war es in der Kammer eisig kalt. Hayla zog fröstelnd ihren wollenen, bestickten Umhang enger um die Schultern. Sie fror erbärmlich, und die Zehen in ihren ledernen Schuhen fühlten sich wie Eiszapfen an. Die Kälte kroch aber nicht nur aus der dunklen Nacht, die sich bedrohlich über das Land gelegt hatte, sondern auch aus ihrem Inneren. Seit dem vergangenen Tag saßen Hayla und die adligen Bewohner von Fendenwic Castle in Lady Elfgivas Kammer beisammen und dachten an nichts anderes als an das Grauenvolle, was nur wenige Meilen westlich von ihnen geschah. Lady Elfgiva hatte nach dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren die Burg geerbt, und all die Getreuen, die nicht zusammen mit König Harold den Feinden entgegenziehen konnten, hatten sich hier versammelt. Fendenwic Castle war zwar ein Festungsbau, der gut zu verteidigen war, aber es fehlte an den dafür nötigen Männern und an Waffen. Im Morgengrauen hatte Hayla das letzte Mal etwas gegessen, und obwohl ihr Magen immer wieder knurrte, verspürte sie keinen Hunger. Allein bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel. Lediglich an dem warmen, mit Wasser verdünnten Bier nippte sie hin und wieder, doch das Getränk hinterließ einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Als auf der Treppe hastige Schritte zu hören waren und kurz darauf die Tür aufgerissen wurde, zuckte Hayla angstvoll zusammen. Alle starrten wie gebannt auf den Ankömmling und hofften, endlich eine Nachricht vom Schlachtfeld zu erhalten – aber es war nur eine Magd, die einen Krug frisches Bier brachte.
    »Diese Warterei ist unerträglich!« Lady Elfgiva, eine ältere, großgewachsene und schlanke Dame, die in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein musste, trommelte mit den Fingern nervös auf die Lehne des hölzernen Stuhls. »Wenn wir doch nur wüssten, was dort draußen vor sich geht …«
    »Wir müssen auf König Harold vertrauen.« Scharf wie ein Schwert schnitt die Stimme eines alten, graubärtigen Mannes Elfgivas Worte ab. »Hinter dem König steht ein großes Heer, und jeder aufrichtige Angelsachse wird nicht zulassen, dass dieser … dieser … normannische Bastard auch nur einen Fuß auf unser Land setzt.«
    »Bei allem Respekt, Sir Alfred, aber der Bastard ist bereits mit Tausenden bis an die Zähne bewaffneten Männern an unserer Küste gelandet.« Ein zweiter, älterer Mann, dem der rechte Arm fehlte und der deswegen nicht in den Kampf hatte ziehen können, stand schwerfällig auf. »Des Königs Heer ist wegen der vorangegangenen Schlachten gegen die Norweger im Norden des Landes stark dezimiert und geschwächt, während die Normannen ausgeruht und frisch sind.«
    Sir Alfred erhob sich ebenfalls und starrte sein Gegenüber finster an.
    »Auf welcher Seite steht Ihr eigentlich, Sir Leofric? So wie Ihr sprecht, könnte man glauben, Ihr wünscht dem König eine Niederlage. Wer weiß, vielleicht steht Ihr sogar heimlich mit dem normannischen Hurensohn in Kontakt und unterstützt ihn?«
    Mit einer für sein Alter ungewöhnlich raschen Bewegung zog Leofric mit der linken Hand ein Messer aus seinem Gürtel, trat vor Sir Alfred und hielt ihm die Klinge an die Kehle.
    »Für diese Bemerkung sollte ich Euch auf der Stelle töten!«
    »Hört auf damit!« Lady Elfgiva klatschte laut in die Hände. »Da draußen stehen Tausende von tapferen und aufrechten Angelsachsen in einem Kampf auf Leben und Tod einander gegenüber, und ihr beide habt nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten.«
    Betroffen blickten die beiden Männer zu Elfgiva, und Leofric steckte seufzend das Messer zurück in die lederne Scheide.
    »Ihr habt recht, Mylady, aber ich verlange eine Entschuldigung.« Auffordernd sah er Alfred an, der daraufhin lapidar mit den Schultern zuckte und undeutlich murmelte: »Ich wollte Euch keinen Verrat gegen den eigenen Vetter unterstellen, Sir Leofric. Wenn Ihr diesen Eindruck gewonnen habt, so tut es mir leid.«
    Hayla hatte den Disput stumm verfolgt. Auch für sie war die Behauptung, ihr Onkel Leofric könnte sich gegen den König, seinen Vetter zweiten Grades, stellen, absurd. Sir Alfreds Unterstellung entsprang sicherlich der Anspannung, unter der sie litten, seit vor einigen Tagen alle kampffähigen Männer die Burg
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