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Nachtblauer Tod

Nachtblauer Tod

Titel: Nachtblauer Tod
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Der Kommissar tat es ihm gleich. Genau wie der Kommissar solche Manöver gewohnt war, täuschte Leon den Versuch vor, nach links zu springen, also kam er ihm entgegen, um ihn dort zu empfangen, aber Leon zog stattdessen weiter nach rechts durch, und der Schlipsträger erwartete ihn an der falschen Stelle. Solche Tricks hatte Leon beim Fußballtraining gelernt, sie funktionierten aber auch ohne Ball. Leon rannte die Treppe hoch. Hinter ihm weinte ein Kind oder eine Frau, aber er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern.
    Der Kommissar hechelte hinter Leon her. Er hatte erst vor zwei Wochen aufgehört zu rauchen. Vierzig Zigaretten am Tag hatten nicht geholfen, seinen hektischen Alltag zu überstehen, und ihn fertiggemacht. Aus dem einstigen Taucher und Rettungsschwimmer war ein kurzatmiger Mann geworden, der mit seinen fünfundvierzig Jahren kaum noch die Sprintleistung eines Sechzigjährigen hatte.
    Er blieb drei, vier Stufen hinter Leon, aber getrieben von der irren Angst um seine Mutter vergrößerte Leon den Abstand. Als er schließlich vor seiner Wohnungstür im zweiten Stock ankam, befand sich der Kommissar noch im ersten Stock, musste stehenbleiben und sich aufstützen, weil ihm schwindlig wurde.
    »Mach keinen Mist, Junge! Bleib stehen! Ich meine es doch nur gut!«, japste er.
    Das Erste, was Leon aus der elterlichen Wohnung entgegenschlug, war ein Blitzlicht des Polizeifotografen aus der offenen Schlafzimmertür seiner Eltern. Und dann war da dieser Geruch. Süßlich. Schwer. Metallisch. Genau wie Blut.
    Im Flur kniete ein Kriminaltechniker und schraubte an einer Dose herum, deren Deckel er nicht aufbekam.
    Was Leon dann sah, war schlimmer als die undurchdringliche Eisdecke. Es war so endgültig. Ein Riss ging von nun an durch sein Leben. Ab sofort würde er die Zeit neu einteilen, in vor und nach der Mordnacht. Nichts würde je wieder so sein wie es gewesen war, bevor er seine Mutter tot auf dem Bett liegen sah, das spürte er mit jeder Pore seiner Haut. Dann brach er zusammen.
    Das Blitzlicht des Fotografen zuckte noch zweimal durchs Zimmer. Leon nahm es durch die geschlossenen Augen wahr wie ein Gewitter im Gehirn. Er hörte noch, was um ihn herum geschah. Das Knarren der alten Dielen, als der Kommissar den Raum betrat und dann seine atemlose, heisere Stimme.
    »Mist, verdammter. Das wäre nicht nötig gewesen. Kein Kind sollte seine Mutter so sehen.«
    »Wer sagt dir, dass der Bengel sie nicht umgebracht hat? Wir hatten neulich einen, der hat Vater, Mutter und Schwester erschlagen und ist dann seelenruhig in die Disco gegangen …«

4
    Kommissar Büscher verbrachte mit seiner Kollegin Birte Schiller, die er gern Löckchen nannte, was sie nicht witzig fand, eine Kaffeepause in der Cafeteria des Klinikums Bremerhaven-Reinkenheide. Sie trug ein schwarzes, fast eckiges Brillengestell, das ihrem Aussehen eine unangenehme Strenge gab, die sie aber ohne Brille gar nicht ausstrahlte.
    Sie hatten sich mal wieder gestritten. Zur Versöhnung gab er einen Milchkaffee aus, aber kaum hatte er die Tassen an den Tisch gebracht, legte sie gleich wieder los.
    Sie rührte ihren Milchkaffee nicht an. Büscher dagegen schlürfte seinen mit Genuss. Er deutete auf ihre Tasse: »Trink, Löckchen. Kaffee ist gut gegen Kopfschmerzen.«
    Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine Kopfschmerzen.« Sie machte eine Pause und sah ihn bedeutungsschwanger an. »Aber ich habe eine Milchallergie.«
    Er erkannte seinen Fehler. »Oh.«
    Sie setzte nach. »Seit drei Jahren.«
    »So lange kennen wir uns noch gar nicht«, verteidigte er sich.
    »Eben. Seit wir uns kennen, ist das so. Ich finde, du könntest es dir langsam merken.«
    »Schöne Frauen verwirren mich eben …«
    Er lächelte sie an. Sie verzog das Gesicht, und er begriff, dass er sich immer noch tiefer reinritt.
    Sie schob ihm den Milchkaffee rüber. »Du glaubst also im Ernst, der Junge könnte …«
    Er hob abwehrend die Hände. »Ich glaube gar nichts. Ich suche einen Mörder und brauche Beweise. Verdächtig ist erst mal jeder.«
    »Sollten wir den Jungen nicht besser erst den Ärzten und Psychologen überlassen? Wir können ihn doch morgen …«
    Büscher nestelte an seiner Krawatte herum. »Nein. Erfahrungsgemäß werden die meisten Mordfälle in den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat aufgeklärt. Dann hat sich noch nicht jeder eine gute Ausrede zurechtgelegt, die Zeugen erinnern sich noch gut an alles, und die Emotionen gehen hoch. Täter, die
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