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Nacht über Algier

Nacht über Algier

Titel: Nacht über Algier
Autoren: Yasmina Khadra
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Spinne und schließt sie dann zu einer angriffslustigen Faust.
    »Wer hat sich seit dem ersten Mord gewandelt, wer ist nach der Sintflut klüger geworden? Wir rennen weiter in unser Verderben und kümmern uns einen Dreck um die Zukunft . Ein Krieg löst den anderen ab, Elend, wohin man blickt, Dramen und Katastrophen, vor denen wir ratlos stehen. Warum? Warum soviel Unglück, soviel schreckliches und unnötiges Leid? Das ist die Frage. Wer eine Antwort darauf hat, der hat leider noch lange keine Lösung parat.«
    Er öffnet die Faust und läßt die Finger kreisen.
    »Also, wo steckt sie, diese verfluchte heilige Wahrheit, Kommissar? In der Lektion, die die Menschen niemals angenommen haben? Oder in der Gewöhnung an die Tragödien, die so weit geht, daß sich die wie durch ein Wunder verschont gebliebenen Generationen benachteiligt fühlen und ihren Teil an Verdammnis fordern? Wenn die Wahrheit sich eines Morgens zu uns gesellte, wir wären schon vor Einbruch der Dunkelheit vor Langeweile gestorben. Allein die Lüge hilft uns standzuhalten. Nur sie versteht uns, hat Erbarmen mit uns ... Die Lüge ist unsere Rettung. Was sind Hoffnung, Toleranz, Traum, was Brüderlichkeit, Gleichheit, Treue, was Vergebung, Gerechtigkeit, Reue, wenn nicht diese köstliche Lüge, dank derer wir von einem Schlamassel in den nächsten schlittern, ohne daß es in unserem Schädel klick macht.«
    Cherif Wadah ist bei seinem Schlußwort ganz aus der Puste gekommen. Er richtet den Oberkörper auf, um wieder Luft zu holen. Aber ich lasse ihn nicht los. Ich nehme ihn scharf ins Visier, attackiere ihn aus allernächster Nähe.
    »Sie sind ein bißchen zu oft in der Anstalt, Monsieur Wadah.«
    In diesem Moment taucht plötzlich Joe auf und drückt mir ein Jagdgewehr an die Schläfe.
    »Soll ich ihm das Gehirn durchlöchern?«
    »Nimm die Waffe runter, Kleiner«, ermahnt ihn sein Gönner.
    »Er hat es dir gegenüber an Respekt fehlen lassen. Und ich erlaube niemandem, es dir gegenüber an Respekt fehlen zu lassen. Nicht mal meiner Mutter. Ein Scheißbulle ist das, weiter nichts. Er hat kein Recht, mit dir in einem solchen Ton zu reden.«
    »Nimm das Gewehr runter, hörst du!«
    Joe bebt bei der Aufforderung seines Beschützers, er hat Mühe, seinen Finger am Abzug ruhig zu halten.
    Seine Blicke treffen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Kalter Schweiß bricht mir aus. Das Zittern des Fingers hört allmählich auf, nach und nach löst er sich vom Abzug.
    Nur widerwillig weicht Joe zurück und verschwindet unauffällig wie ein Gespenst hinter einer Tür.
    »Ich stelle fest, daß alle Welt drauf und dran ist, sich die Köpfe einzuschlagen, Monsieur Wadah.«
    »Ich hatte Ihnen ja gesagt, daß er nicht alle beieinander hat.«
    »Da ist er leider kein Einzelfall!«
    »Laß den Dingen ihren Lauf, Kommissar«, redet der Professor auf mich ein. »Der Zug, der ins Neuland aufbrechen wird, ist startbereit; sich ihm in den Weg stellen heißt, sich seinem Jammertal zu überlassen. Es gibt Zusammenhänge, die sich dem Normalbürger entziehen. Ihm ist oft nicht bewußt, daß dies zu seinem und zum Wohl der kommenden Generationen geschieht. Der Tod eines Menschen muß nicht die Chancen einer ganzen Nation zunichte machen. Lebend war Haj Thobane für alle ein Hindernis. Von jetzt an muß der Acker nur neu bestellt werden. Und das nehmen wir gerade in Angriff.«
    »An Ihrer Stelle«, schaltet sich Cherif Wadah ein - er beansprucht mich für sich allein -, »würde ich nach Hause gehen und meine Koffer packen. Bulgarien ist ein schönes Land.«
    »Ich brauche diesen Lehrgang nicht.«
    »Wir können auch andere Ziele für Sie aussuchen. Frankreich, Italien, Rußland, die Vereinigten Staaten ...«
    »Mit mir nicht, Monsieur.«
    »Schade.«
    Als ich schon an der Tür bin, hält mich Wadahs Stimme zurück. Er duzt mich auf einmal:
    »Du hast überhaupt keinen Grund, an unserem Vorhaben zu zweifeln, Brahim. Es trägt unseren Fehlern Rechnung und verspricht, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Das Land wird zu neuem Leben auferstehen, schön und stark. Sachverstand ist wieder gefragt, und Können wird wieder gewürdigt. Dank einer neuen Politik werden wir im Konzert der Nationen mitspielen. Die Koryphäen, die der Egoismus und die Selbstgefälligkeit gewisser Führer ins Exil gezwungen hat, werden zu uns zurückkehren. Unsere Schulen und Universitäten werden wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung dienen. Unsere Künstler werden sich ihrem Schaffen hingeben
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