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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
Autoren: Thomas Raufeisen
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Ein überstürzter Aufbruch
     
    Der 22. Januar 1979 begann als ganz normaler Tag; er war ein Montag. Er war kalt wie der ganze Winter 78/79. Ganze Dörfer in Norddeutschland waren von der Außenwelt abgeschnitten, Schneewälle begrenzten die Straßen. Immer wieder schneite es. Ich war in der Schule, 11. Klasse. Wir hatten nur fünf Stunden, danach fuhr ich mit dem Bus nach Hause, nach Hannover-Ahlem, vorbei an aufgetürmten, schmutzigen Schneebergen am Straßenrand.
    Zu Hause würde meine Mutter mit dem Essen auf mich warten, mein Bruder Michael würde auch da sein, der gerade mit einer Grippe flach lag. Aber alles war anders: Kein Essen stand auf dem Tisch; dafür war mein Vater zu Hause und verbreitete Hektik. Er war um diese Zeit sonst immer auf seiner Arbeit. Was war los? War irgendetwas passiert? Michael erzählte mir, dass unser Vater gerade nach Hause gekommen sei. Keine Begründung. Als wir nun komplett waren, teilte mein Vater uns mit, er hätte im Büro einen Anruf erhalten, dass irgendetwas mit unserem Opa passiert sei. Unserem Großvater ginge es plötzlich sehr schlecht, wir müssten zu ihm fahren, vielleicht sähen wir ihn ja das letzte Mal.
    Meine Großeltern lebten aber nicht gerade nebenan, sondern wohnten im Osten. Im Seebad Ahlbeck auf der Insel Usedom, ganz im Nordosten der DDR, nahe der polnischen Grenze. Meine Mutter war dort geboren und aufgewachsen. Opa war damals schon relativ alt und auch ein bisschen gebrechlich, so dass diese Nachricht nicht total überraschend kam. Wir hatten zwar damit gerechnet, aber doch gehofft, es würde nicht so schnell passieren. Nun war die Zeit wohl gekommen. Wir mussten also schnell los, was nicht so einfach war, denn ich ging ja zur Schule; die Einreise in die DDR war so kurzfristig auch nicht möglich. Aber unser Vater wollte das irgendwie regeln. Und wie das so ist mit 16, kümmert man sich auch nicht weiter darum. Eine Woche schulfrei außer der Reihe war ja auch nicht übel. Einfach so in der Schule anrufen konnten wir nicht, denn wir hatten zu Hause kein Telefon. Alle meine Mitschüler hatten Telefon, nur wir nicht. Wie oft hatten wir unserem Vater deswegen schon in den Ohren gelegen! Seine Erklärung: „Es gibt doch Telefonzellen, für besonders dringende Fälle habe ich bei der Arbeit ein Telefon.“ Und was nützte uns das, wenn wir uns mit Freunden verabreden wollten?
    Ich musste also noch mal in die Schule, die Beurlaubung beantragen. Mein Vater war nicht erfreut über die Verzögerung. Sonst war er doch immer so korrekt in solchen Dingen. Er schien nervös und wollte bald losfahren. Immerhin waren es über 500 Kilometer bis Ahlbeck, dazu noch die unberechenbare Grenzkontrolle und die holprigen DDR-Straßen.
    Mein Bruder fuhr mich also noch einmal nach Seelze. Ich füllte im Sekretariat schnell ein Formular aus. Die Sekretärin wünschte uns eine gute Fahrt und alles Gute für den Opa.
    Zurück in der Wohnung empfing uns große Hektik. Unsere Eltern waren dabei, das Notwendigste zu packen für eine Reise, die voraussichtlich eine Woche dauern sollte. Die nächste Merkwürdigkeit: Mein Vater packte eine ganze Kiste Super 8-Urlaubsfilme von uns mit ein. Warum tat er das? Er erklärte, er wolle unserem Opa noch einmal, kurz bevor er vielleicht stirbt, ein paar schöne Erinnerungen verschaffen, indem er ihm ein paar Filme vorführte. Eine seltsame Idee. Aber wer versteht schon seine Eltern, zumal, wenn er in der Pubertät ist? Am Nachmittag war das Auto bepackt und los ging’s! Mein Vater fuhr, meine Mutter saß neben ihm und verteilte geschmierte Brote – wie immer. Die schnellste Strecke in Richtung Usedom führt an Berlin vorbei. Also die A2. Hannover, Braunschweig, Helmstedt, Magdeburg… Wir kannten die Strecke, waren wir sie doch schon so oft gefahren.

Rückblick I
     
    Jeden Sommer hatten wir meine Großeltern in Ahlbeck besucht und dort unseren Sommerurlaub verbracht. Für meine Mutter war es die einzige Gelegenheit im Jahr, ihre Eltern zu sehen. Die ersten Jahre fuhren wir mit dem Zug. Für uns Jungs war es wie eine Weltreise: Von Hannover aus ging es nach Hamburg, dort umsteigen nach Stralsund. Stundenlang fuhr der Zug. Von Stralsund waren es noch mal ca. 150 km bis nach Ahlbeck, kurz vor der polnischen Grenze. Eine Fahrt in stinkenden, überfüllten Zügen, in denen man mit den nackten, verschwitzten Beinen an den Kunstledersitzen kleben blieb. Nicht nur die Züge, alles wirkte grau, einfach farbloser als ich es gewohnt war. Bei meinen
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