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Nacht über Algier

Nacht über Algier

Titel: Nacht über Algier
Autoren: Yasmina Khadra
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Pläne?«
    »Weiß der Teufel.«
    »Wenn Thobane ihnen so im Wege stand, warum hat man ihn dann nicht einfach getötet? Sie hatten die Qual der Wahl: Ein Unfall, ein Giftmord, ganz gleich, welche Sauerei, und die Sache wäre erledigt gewesen. Warum denn dieses ganze Versteckspiel, dieses Wühlen im Schmutz der Geschichte und dieser unerträgliche Skandal?«
    »Revolutionäre haben ihre eigene Art, Rechnungen zu begleichen. Ein Unfalltod oder ein Mord durch einen Geistesgestörten hätte den Mann zu Fall gebracht, aber weder seine Legende noch seine Anhänger. Sein Ansehen mußte also gleich mit beseitigt werden. Wer könnte sich jetzt noch darauf berufen, aus Haj Thobanes Schule hervorgegangen zu sein, wer würde es noch wagen, sich damit zu brüsten, ein Verwandter oder Vertrauter von ihm gewesen zu sein? Der Skandal hat alles in seinem Umfeld vernichtet. Wie eine Atomwolke. Auch diejenigen, die auf seine Kosten gelebt haben, müssen sich jetzt woanders gesundstoßen. Haj Thobane wird überall dort Schande verbreiten, wo sein Name genannt wird. Die Geschichte hat sich von ihm losgesagt, die Nation will ihn aus ihrem Gedächtnis streichen. Er ist schon nicht mehr nur ein Verräter, er ist bereits vergessen. Sein Reich hinterläßt keine Trümmer, er hat niemals existiert. So kann unsere ruhmreiche Revolution mit reinem Gewissen ihren kämpferischen Marsch fortsetzen.«
    »Was ich nicht begreife, ist Ihre Verbissenheit. Warum ein solcher Haß auf einen Mann, der nicht schrecklicher ist als die meisten anderen, deren Heldenmut Sie in Ihren Schriften rühmen?«
    Sie drückt ihre Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher aus und steht auf. Ihr Gesicht kommt meinem bedrohlich nah.
    »In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1962 ist es in der Tat einem von den Talbis gelungen, dem Massaker zu entkommen. Die Mörder sind ihm monate-, ja vielleicht jahrelang hinterhergejagt. Ein paarmal sind sie an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu erkennen. Sie suchten einen Jungen. Doch der Überlebende war kein kleiner Junge, sondern ein Mädchen ...«
    Thors Hammer hätte mich nicht stärker treffen können.
    Ich erkenne meine Stimme nicht, als ich schreie: »Sie?«
     
    24
     
    Ich habe mich in meinem Bett gewälzt wie der Wurm in einer Frucht. In meinem Kopf hallte Sorias Stimme wider, die ein paar Stunden zuvor aus dem Jenseits gekommen zu sein schien.
    Die Schreie meines Bruders hämmerten noch immer in meinen Schläfen. Ich bin durch die Wälder gerannt, gerannt, gerannt. Die Zweige haben mir das Gesicht zerkratzt, mir die Beine zerschrammt und die Haare ausgerissen, aber das hat meine verzweifelte Flucht nicht aufgehalten. Der Vollmond richtete seine Fackel auf mich, um meinen Verfolgern den Weg zu weisen. Ich konnte noch so schnell laufen, er war stets über mir, wie ein böses Omen. Hätte ich Flügel gehabt, ich hätte nicht schneller laufen können, immer wieder blickte ich mich nach der Lichtung um, wo man gerade die umgebracht hatte, die mir das Teuerste auf Erden waren. Seit dieser Nacht habe ich nie mehr nach vorn schauen können. Wohin ich auch gehe, was ich auch mache, ich blicke zurück. Ich mußte noch einmal zu dieser Lichtung zurückkehren, zu den Wurzeln meines Schmerzes, ich mußte das Massengrab ausheben, um die Meinen endlich in Ehren und Frieden ruhen lassen zu können.
    »Warum schläfst du nicht?« stöhnt Mina.
    »Vielleicht, weil ich mein ganzes Leben nichts anderes getan habe.«
    Ich stoße die Decke weg und schlüpfe in meine Pantoffeln. Ich strecke mich auf der Polsterbank aus und rauche eine nach der anderen. Es ist zwei Uhr morgens.
    Draußen hupt ein Rüpel weiß der Teufel wem hinterher, ohne sich um den Rest der Welt zu scheren. Ich gehe ans Fenster. Das Hupkonzert dauert noch zwei Minuten, dann jagt der Kerl seine Karre mit affenartiger Geschwindigkeit quer durchs Viertel.
    Wahrscheinlich ein Betrunkener, der nicht mehr nach Hause findet. Auf dem Bürgersteig versucht eine Bettlerin, ihre Kinder mit ein paar Lumpen zuzudecken, damit sie es warm haben. Ein Hund streicht dicht an ihr vorbei, den Blick abgewandt von diesem Elend. Mein Gott, man möchte am liebsten verrecken, so trostlos ist das.
    Algier, warum ist es bloß so trostlos, in deinen Mauern zu leben?
    Ich drücke meine Zigarette auf einer Untertasse aus. Den Kopf in die Hände gestützt, versuche ich Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
    Wenn Soria der Überlebende Belkacem Talbi war, und der echte Belkacem Talbi tot und erledigt, wer war
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