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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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nicht. Es beginnt, was sie so schmerzhaft vermißt hatte: daß wir uns selber sehen; deutlich fühlt sie, wie die Zeit für sie arbeitet, und muß sich doch sagen: Ich bin zu früh geboren. Denn sie weiß: Nicht mehr lange wird an dieser Krankheit gestorben werden.
    Das Medikament schien wieder anzuschlagen, sie bekam Hunger. Sie kümmert sich darum, daß die Kinder gut versorgt werden. Sie schreibt mir: Ich freue michdarauf, viel aus Eurem Leben zu erfahren, wenn es nur zeitlich möglich wäre ...
    Sie begreift, daß die Blutübertragungen häufiger werden und länger dauern als beim erstenmal. Sie sieht das fremde, gesunde Blut aus dem Glasbehälter in ihren Arm tropfen und denkt, es gibt keine Macht der Welt, die ihr Knochenmark hindern könnte, ihr eigenes rotes Blut mit den zerstörerischen weißen Zellen zu überschwemmen. Zu früh gelebt, hat sie vielleicht gedacht, aber kein Mensch kann sich wirklich wünschen, in einer anderen als in seiner Zeit geboren zu werden und zu sterben. Nichts kann man sich wünschen, als an den wirklichen Freuden und den wirklichen Leiden seiner Zeit teilzuhaben. Vielleicht hat sie sich das zuletzt gewünscht, vielleicht hing sie mit diesem Wunsch am Leben, bis zuletzt.
    Der Umschwung kam plötzlich und kaum noch erwartet. Das Blutbild brach von einem Tag zum anderen zusammen, als sei eine Kraft ganz plötzlich erschöpft, oder eine Geduld, die sich nicht länger hinhalten ließ. Die Ärztin, die den Befund in der Hand hielt, wußte, daß sie am Bett einer Toten stand. Sie können jetzt immer kommen, sagte sie zu Justus, den sie auf dem Flur traf. Zu jeder Stunde. Unsere Mittel greifen da nicht mehr an. Was jetzt in ihr vorgeht, weiß ich nicht. Ich weiß nicht mehr, als hier steht: Zahlen. – Sie ließ die Hände sinken und drehte sich weg.
    Die Veränderungen, die nun noch nötig sind, gehen schnell. Sie bekommt hohes Fieber, Schmerzen. Man gibt ihr Betäubungsmittel. Wenn sie erwacht, sitzt Justus da. Zu fragen hat sie aufgehört. Die Kinder erwähnt sie nicht mehr. Leise und langsam sprechen sieüber entlegene Dinge, dann hört auch das auf. Sie sieht ihn noch an, erkennt ihn noch. Aber das Bewußtsein schwankt. Das Lächeln verschwindet zuerst, dann jeder Ausdruck aus dem Gesicht außer dem des Schmerzes. Stück für Stück nimmt sie sich, nimmt etwas sie zurück. Am Ende, vor der Starre, am ehesten Gleichgültigkeit, dann Strenge. Nichts Zweideutiges mehr, keine Zugeständnisse. Kurz vor dem Tod will sie sprechen. Es gelingt nicht.
    Sie stirbt an einem frühen Morgen im Februar.
    Die Erde war tief gefroren, das Land verschneit. Man mußte einen Weg zu ihrer Grabstelle schaufeln und die Grube mit Hacken herausbrechen. Ich war nicht dabei, als man sie hineinlegte. Als ich das Grab sah, war Sommer. Der Sand war trocken und bröcklig. Der Friedhof liegt frei, fern vom Dorf, auf einer kleinen Anhöhe. Am Kopfende ihres Hügels wuchsen zwei Sanddornsträucher. Der Himmel über ihnen war von einem reinen, zarten Blau, das einen trifft wie ein Schlag. Und dasselbe noch einmal, sagte Christa T., wenn du in den See siehst, nur mit etwas Grün untermischt.
    Sie zog wie die Kinder die Schuhe aus, als wir über die Hügel gingen. Sie geht auf nackten Sohlen durch das struppige harte Gras und schlenkert die Sandalen an ihren Riemchen hin und her. Manchmal bückt sie sich nach irgendeinem Halm für ihre Sammlung aller Pflanzen rund um den See. Glücklich ist sie über eine Silberdistel. Dann müssen wir uns alle umdrehen, weil sich hier noch einmal ein Blick auf das Schilfdach ihres Hauses eröffnet. Es steht wirklich gut, sagt sie befriedigt, der Platz ist richtig gewählt.
    Sie hat in der Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt.In einem alten Gebäude, das ich gar nicht kenne, steige ich eine Treppe hoch, immer höher, bis unters Dach. Komme da auf einen großen Boden, bekannt-unbekannt wie das ganze Haus. Da ist ein Lattenverschlag mit einer Türöffnung ohne Tür. Dahinter steht ein Tisch mit braunen Jungensmützen: Pelz, Leder. Ein alter Mann kommt, er hinkt. Ich kenne ihn nicht, weiß aber: der Schuldiener. Er sagt: Nächste Stunde gehn die ja alle weg in die Ausstellung. Da fällt mir ein, daß hinter der Wand, die der Lattenverschlag verdeckt, meine alte Klasse sitzt. Deshalb bin ich ja hergekommen! Ich freue mich plötzlich, daß ich sie alle wiedersehen werde. Namen fallen mir ein. Ich muß wohl lange krank gewesen sein. Ich werde bis zur Pause warten und dann einfach wie früher
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