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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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verheimlichten auch nicht, daß wir begriffen. Wir tranken alle auf sie – oder ich wünsche mir doch sehr, wir hätten es getan –, zu der jeder von uns feste und jeder andere Beziehungen hatte und die es fertigbrachte, alle diese Beziehungen geschickt und großzügig und vor allem ohne Berechnung zu handhaben.
    Wenn alles so war, wie ich es mir jetzt wünsche, dann haben wir es ganz natürlich gefunden, daß unter diesen Beziehungen auch so etwas wie ungeschickte Liebe oder altmodische Verehrung war. Wenn wir an jenem Abend so gewesen sind, wie ich es mir wünsche, dann waren wir alle großmütig und wollten, daß uns kein Gefühl und keine Nuance eines Gefühls fehlen sollte, denn das alles, mögen wir gedacht haben, stand uns zu. Diesen einen Abend lang, die Silvesternacht von einundsechzig auf zweiundsechzig, ihr vorletztes Silvester, soll sie, Christa T., uns das Beispiel abgegeben haben für die unendlichen Möglichkeiten, die noch in uns lagen.
    Das hat sie gewußt und hat sich nicht geziert.
    Es war unvermeidlich, daß wir anfingen, uns Geschichten zu erzählen, Geschichten, wie sie in einem auftauchen, wenn die Wasser sich verlaufen. Dann ist man ein wenig erstaunt, daß diese Geschichten alles sein sollen, was übrigbleibt, und man sieht sich gezwungen, sie ein wenig auszuschmücken, eine hübsche kleine Moral in sie hineinzulegen und ihren Schluß vor allem, mag man davon halten, was man will, zu unseren Gunsten zu gestalten. Es ist ja nichts dabei, wenn man so fest überzeugt ist, daß das Ende doch zu unseren Gunstenausgeht und daß sich die vielen einzelnen kleinen Schlüsse ruhig dem großen Schluß unterordnen sollen. Kurz und gut, wir prahlten. Wir arbeiteten an einer Vergangenheit, die man seinen Kindern erzählen kann, die Zeit rückte schließlich heran.
    Der Streit, wie gesagt, blieb aus. Wie war Christa T. auf Streit gekommen? Denn natürlich waren Günters Erzählungen sehr verschieden von denen Blasings, der sich dauernd von seiner Frau berichtigen lassen mußte, bis wir alle gemerkt hatten, daß es ihm im Grunde gleichgültig war, womit er seine Wirkungen erzielte. Wenn da nur gelacht wurde, wenn er nur Erfolg hatte.
    Sie, sagte Christa T. plötzlich – also nicht Günter ist es gewesen, sie selbst war es ja! –, Sie, Blasing: Das ist ja alles mächtig lange her, was Sie uns da erzählen. Nun erzähln Sie uns mal was über heute abend. Über uns.
    Darauf mußte Blasing zuerst einen großen Schluck trinken, aber dann sagte er: Nichts leichter als das. Es war einmal ...
    Er machte seine Sache nicht schlecht. Er hatte die schwachen Stellen von jedem von uns ganz gut herausgefunden, auch unsere Vorzüge, sich selbst schonte er nicht, und erst ganz am Ende merkten wir, daß er uns alle in Töpfe gesteckt hatte, die lange bereitstanden und sogar schon beschriftet waren, vielleicht ehe es uns überhaupt gab. Er, Blasing, hatte nur noch die Deckel aufgestülpt, und nun waren wir fix und fertig, wir wußten alles über uns, und keiner hatte den mindesten Grund, noch einen Finger zu rühren oder einen Schritt zu tun. Keiner hatte noch Grund, am Leben zu bleiben, und Frau Blasing, die eine Konsum-Verkaufsstelle leitete und ihre drei Kinder erzog, erklärte ihrem Mannunverblümt, sie habe ihn schon immer im Verdacht gehabt, daß er sie umbringen wolle.
    Das war alles Jux, und warum sollten wir uns streiten! Ich mußte nur flüchtig daran denken, als ich Blasing neulich mit seiner schwarzen Mappe traf. Günter hätte ihn sicher nach seinen Manuskripten gefragt, er fragt immer alle Leute eindringlich nach ihrer Arbeit. Er hätte gelesen, was Blasing ihm gab, und sei es mitten auf der Friedrichstraße, und dann hätten sie sich wirklich gestritten. Damals, Silvester zweiundsechzig, waren wir noch zu unsicher. Wir sprachen über Blasing, als der gegangen war, das sollte man wohl nicht tun. Wir fragten uns, ob er den Erfolg haben werde, nach dem er sich so sehnte. Günter war da anderer Meinung als Christa T., die sagte: Er blufft, aber er hält sich nicht.
    Er will, sagte Günter, daß alles sich verfestigt, er kann nicht anders, und wenn er den Leuten den Kopf abschneiden muß, damit sie ihm stillhalten ... Da war schon nicht mehr von Blasing die Rede.
    Da haben wir sie, Christa T., von ihren Schwierigkeiten reden hören, ein einziges Mal. Wir alle waren müde, hatten auch getrunken, schon am Morgen kann vergessen sein, was man nachts um drei hört. Daß sie sich vor den Festlegungen scheute. Daß
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