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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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weiter.
    Ich kenne ja ihre Schrift, ich habe mir ihre Antworten nachher herausgesucht. Gewissen, stand da in ihrer Schrift. Phantasie.
    Da hat ihr Blasing mit dem Finger gedroht. Olala, sie hatte es ernst genommen, aber verteidigen wollte sie sich nicht. Sie bestritt auch nicht, daß die Ausnutzung aller Energiequellen der Erde ... Nein: Wer wollte Blasing darin widersprechen?
    Günter tritt ihm entgegen. Günter, der mit uns auf der Treppe der Universität sitzt, es ist Nacht, die Linden duften, wo stehen denn hier Linden? Die Ordnung ist endgültig durcheinandergekommen. Ein bißchen mehr Ordnung hätt ich schon gerne, sage ich, und ein bißchen mehr Übersicht. Da blickt sie zu mir, der Schlafenden, herüber, lacht schon wieder, sagt aber dann ganz ernst: Ich auch.
    Wer dir das glauben könnte, sagt Günter bekümmert, wer wüßte, woran er mit dir ist! Da ist sie erstaunt,das sieht man an ihren Augen, die sich zurückziehen, während wir reden, reden. Das bißchen Ich, sagen wir verächtlich auf unserer Treppe. Der alte Adam, mit dem wir fertig sind. Sie schweigt, überlegt, ich weiß jetzt: jahrelang, bis sie endlich, eines Nachts, in unserer Berliner Veranda, die S-Bahn-Züge donnern vorbei, ihre Bedenken anmeldet: Ich weiß doch nicht. Da muß ein Mißverständnis sein. Diese Mühe, uns jeden anders zu machen – bloß, damit wir das wieder loswerden sollen?
    Das kann ich doch nicht annehmen. Das will ich doch nicht glauben. Man kann sich nämlich entschließen, in gewissen Bereichen, das eine für wahr zu halten, das andere nicht. So wie man sich irgendwann entschlossen hat, an die Gutartigkeit der Menschen zu glauben, nützlichkeitshalber, als Arbeitshypothese.
    Da sprach sie mir von ihren Schülern. Wir gingen vom Marx-Engels-Platz zum Alex. Wir standen am Zeitungskiosk und ließen die Hunderte von Gesichtern an uns vorbeitreiben, wir kauften uns die letzten Osterglocken am Blumenstand. Vielleicht sind wir ein bißchen vom Frühling betrunken, sagte ich. Aber sie bestand darauf, nüchtern zu sein und zu wissen, was sie sagte. Sie vertrat unser Recht auf Erfindungen, die kühn sein sollten, aber niemals fahrlässig.
    Weil nicht Wirklichkeit wird, was man nicht vorher gedacht hat.
    Sie hielt viel auf Wirklichkeit, darum liebte sie die Zeit der wirklichen Veränderungen. Sie liebte es, neue Sinne zu öffnen für den Sinn einer neuen Sache: Ihren Schülern wollte sie beibringen, sich selbst wertvoll zu werden. Ich weiß, sie geriet einmal aus der Fassung, als einersie groß ansah und unschuldig fragte: Warum? Darauf kam sie immer wieder zurück, es quälte sie lange, daß sie verstummt war. Ob sie daran denken mußte, als sie an jenem Morgen, da ich schlief, auf ihren Zettel schrieb: Das Ziel – Fülle. Freude. Schwer zu benennen. Nichts könnte unpassender sein als Mitleid, Bedauern. Sie hat ja gelebt. Sie war ganz da. Sie hat immer Angst davor gehabt, steckenzubleiben, ihre Scheu war die andere Seite ihrer Leidenschaft, zu wünschen. Jetzt tritt sie hervor, gelassen auch vor der Nichterfüllung, denn sie hatte die Kraft, zu sagen: Noch nicht. Wie sie viele Leben mit sich führte, in ihrem Innern aufbewahrte, aufhob, so führte sie mehrere Zeiten mit sich, in denen sie, wie in der »wirklichen«, teilweise unerkannt lebte, und was in der einen unmöglich ist, gelingt in der anderen. Von ihren verschiedenen Zeiten aber sagte sie heiter: Unsere Zeit.
    Schreiben ist groß machen. Nehmen wir uns zusammen, sehen wir sie groß. Man wünscht nur, was man kann. So bürgt ihr tiefer und dauerhafter Wunsch für die geheime Existenz ihres Werkes: Dieser lange, nicht enden wollende Weg zu sich selbst .
    Die Schwierigkeit, »ich« zu sagen.
    Wenn ich sie erfinden müßte – verändern würde ich sie nicht. Ich würde sie leben lassen, unter uns, die sie, bewußt wie wenige, zu Mitlebenden gewählt hatte. Würde sie an dem Schreibpult sitzen lassen, eines Morgens in der Dämmerung, die Erfahrungen aufzeichnend, die die Tatsachen des wirklichen Lebens in ihr hinterlassen haben. Würde sie aufstehen lassen, wenn die Kinder rufen. Den Durst nicht löschen, den sie immer spürt. Ihr, wenn es not tut, Zuversicht geben, daß ihre Kraft imWachsen war, mehr brauchte sie nicht. Würde die Menschen um sie versammeln, die ihr wichtig waren. Würde sie die wenigen Blätter vollenden lassen, die sie uns hinterlassen wollte und die, wenn nicht alles täuscht, eine Nachricht gewesen wären aus dem innersten Innern, jener tiefsten
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