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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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alles, was erst einmal »dasteht« – dieses Wort schon! –, so schwer wieder in Bewegung zu bringen ist, daß man also schon vorher versuchen muß, es am Leben zu halten, während es noch entsteht, in einem selbst. Es muß andauernd entstehen, das ist es. Man darf und darf es nicht dahin kommen lassen, daß es fertig wird.
    Bloß wie soll man das machen?

19
    Das Jahr ist um. Das Gesetz tritt in Kraft, das uns nahelegt, es genug sein zu lassen, und das wir anerkennen müssen. Nur diese Szene noch, diese eine, die so schwer aus der Erinnerung aufsteigt.
    Schreiben ist groß machen.
    Hat sie es gesagt, täuscht mich mein Gedächtnis? Man braucht für jeden Satz den Ort, an dem er ausgesprochen wird, die Stunde, die zu ihm paßt.
    Das Kleine und Kleinliche, sagt sie, sorgt für sich selber.
    Ja: Dämmerlicht. Ich weiß: Morgen. Der Geruch nach Zigarettenrauch, von dem ich erwacht sein muß. Die Bücherwand, auf die mein Blick zuerst fällt und die ich nicht gleich erkenne. Da sitzt sie an dem Klappschrank, der mit Justus’ Papieren überdeckt ist, in ihrem ausgeblaßten roten Bademantel, und schreibt: Die große Hoffnung oder über die Schwierigkeit, »ich« zu sagen.
    Das Blatt habe ich mit eigenen Augen liegen sehen, als ich aufstand, aber jetzt ist es verschwunden. Schreiben ist groß machen. Ja, das kann sein: Sie hat es nicht gesagt, ich habe es gelesen.
    Ich störe dich doch nicht? sagt sie. Schlaf ruhig weiter. Das möchte ich doch nicht glauben, daß ich wirklich schlief. Auch wenn ich bis zu dieser Minute diesen Morgen vergessen hatte, wie man sonst nur Träume vergißt. Auch wenn mich mißtrauisch macht, daß er mir gerade jetzt in voller Klarheit und Gewißheit aufsteigt, wie nur die sehr erwünschten Erfindungen einem erscheinen.Das würde sie ja billigen.
    Denn sie kannte die Macht der Erfindungen über uns. An jenem Morgen, dem Neujahrsmorgen, als sie so wach und ich so schlafsüchtig war, hätte man manches bereden können, aber ich war zu beruhigt. Ich wiegte mich in der Sicherheit, daß noch vieles umkehrbar und erreichbar war, wenn man nur die Geduld nicht verlor und den Glauben an sich selbst. Eine unordentliche Zuversicht hatte mich ergriffen, daß alles gut würde. Nur ihr Gesicht, über ein Blatt gebeugt, schien mir fremd. Ja, sagte ich dann, wie man zwischen Schlafen und Wachen ausspricht, was man sonst verschweigt: Dasselbe Gesicht. Ich hab dich mal Trompete blasen sehen, vor achtzehn Jahren.
    Merkwürdig, sie schien Bescheid zu wissen.
    Ihr Geheimnis, auf das ich aus war, seit wir uns kannten, war gar kein Geheimnis mehr. Was sie im Innersten wollte, wovon sie träumte und was zu tun sie seit langem begonnen hatte, lag offen vor mir, unbestreitbar und unbezweifelbar. Jetzt scheint mir, wir hätten es immer gewußt. Sie hatte es ja nicht besonders ängstlich gehütet, nur eben nicht aufgedrängt. Ihr langes Zögern, ihre Versuche in verschiedenen Lebensformen, ihr Dilettieren auf manchem Gebiet deuteten in dieselbe Richtung, wenn man nur Augen hatte zu sehen. Daß sie ausprobierte, was möglich war, bis ihr nichts mehr übrigblieb – das wäre wohl zu verstehen.
    In ihren nachgelassenen Manuskripten lese ich die Stücke in der dritten Person: SIE, mit der sie sich zusammentat, die sie sich hütete, beim Namen zu nennen, denn welchen Namen hätte sie IHR geben sollen? SIE, die weiß, daß sie immer wieder neu zu sein, neu zu sehenhat, und die kann, was sie wollen muß. SIE, die nur die Gegenwart kennt und sich nicht das Recht nehmen läßt, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben.
    Ich begreife das Geheimnis der dritten Person, die dabei ist, ohne greifbar zu sein, und die, wenn die Umstände ihr günstig sind, mehr Wirklichkeit auf sich ziehen kann als die erste: ich. Über die Schwierigkeit, ich zu sagen.
    Schlief ich wirklich? Ich sah sie vorbeiziehen, in allen ihren Gestalten, sah plötzlich hinter allen ihren Verwandlungen den Sinn, begriff, daß der Wunsch unpassend ist, sie irgendwo für immer ankommen zu sehen. Sage wohl etwas Derartiges im Halbschlaf. Jedenfalls lächelt sie, raucht und schreibt.
    Bei mir dauert eben alles entsetzlich lange, sagt sie noch, aber da stehen wir ja in der kleinen Dorfwerkstatt, in der Justus sein Auto reparieren läßt, und der Wind fegt durch die halboffene Tür, und wir fragen uns im gleichen Augenblick, was denn das monotone Hämmern aus der Ecke und das Heulen des Windes mit unserem Gespräch zu tun haben, das sich um Zeit dreht, denn ich finde, so viel
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