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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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Zeit, wie sie sich nimmt, haben wir nicht. Sie aber ist plötzlich so bestimmt, wie sie nie war, und gibt uns alle Zeit, die wir uns nehmen, wenn wir nur wissen, wozu.
    Und du weißt es?
    Sie lächelt. Schlaf doch, sagt sie.
    Da bin ich auch nicht mehr müde. Wir gehen durch die Stadt – rote Scheunenreihen, Kirche, Apotheke, Warenhaus, Café. Es ist Abend, kalt. Wir tragen Netze mit Flaschen. Wir blicken in die Fenster der Häuser, an denen wir vorbeigehen. Sie weiß genau, wie die Leute leben,die unter den kleinen, bunten, schlecht leuchtenden Stehlampen sitzen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind. Sie kennt den Geschmack der Bratkartoffeln, die hier zu Abend gegessen werden. Sie versteht, was ihr die Frauen unbewußt verraten, die jetzt die Türen vor den Feiertagen verschließen. Sie erzählt mir Geschichten, die merkwürdig wahr sind, obwohl sie nirgendwo passieren, aber ihre Helden haben den Namen der Familie, die sich eben vor unseren Augen unter den elektrischen Kerzen des Weihnachtsbaums versammelt, um Blutwurst und Sauerkraut zu essen. Christa T. schwört, daß hinter den glatten zufriedenen Gesichtern der Eltern, des kleinen Jungen und des großen Mädchens genau die Gedanken und Wünsche stecken, die sie eben, in ihrer Geschichte, in die Tat umsetzen durften.
    Schreib doch, Krischan. Warum schreibst du nicht? Na ja, sagt sie. Ach, weißt du ...
    Sie hatte Angst vor den ungenauen, unzutreffenden Wörtern. Sie wußte, daß sie Unheil anrichten, das schleichende Unheil des Vorbeilebens, das sie fast mehr fürchtete als die großen Katastrophen. Sie hielt das Leben für verletzbar durch Worte. Ich weiß es aus Kostjas Brief, dem sie es gestanden haben muß und der jetzt, da er den verantwortungslosen Bereich der bloßen Wort-Existenz verlassen hat, darauf anspielt.
    Wir aber sind die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufgegangen, haben den Schlüssel im Schloß gedreht, hören aus dem Wohnzimmer Jazzmusik und aus der Küche den leisen Gesang von Klein-Anna. Übrigens, sagt Christa T., dieses und jenes habe ich ja vielleicht vor.
    Ich frage Justus.
    Ja, sagt er, ich weiß. Sie meint ihre Skizzen. »Rund umden See« hat sie sie genannt. Der See, an dem unser Haus liegt. Die Dörfer, die wir im Umkreis sehen. Ihre Geschichte. Sie war schon in den Pfarrämtern und hat in die Kirchenbücher gesehen. Das Leben der Nachkommen sollte sich scharf vor dem Hintergrund der Geschichte abheben. Ihr erzählten die Bauern alles, ich weiß nicht, wieso. Du hättest sie mal sehen sollen beim LPG-Ball, das war kurz, ehe sie wegmußte. Sie schlug keinen Tanz aus, aber in den Pausen saß sie an der Theke und zog den Bauern ihre Geschichten aus der Nase. Die ließen sich nicht bitten, weil sie merkten, daß sie sich nicht verstellte, sondern wirklich vor Lachen beinahe vom Stuhl kippte, wenn sie ihr von Küster Hinrichsens Hochzeit erzählten. Notizen hat sie sich auch schon gemacht, du wirst sie ja finden.
    Ich fand sie nicht. Fand auch das Blatt nicht, das sie doch vor meinen Augen an jenem seltsamen Morgen beschrieben hatte und auf das ich einen Blick warf, als sie von den Kindern gerufen wurde und ich aufstand. Einen fortlaufenden Text freilich sah ich nicht, nur ein paar Bemerkungen, deren Zusammenhang mir dunkel blieb. Nach dem merkwürdigen Satz von der Schwierigkeit, ich zu sagen, stand da: Tatsachen! An Tatsachen halten. Und darunter in einer Klammer: Aber was sind Tatsachen?
    Die Spuren, die die Ereignisse in unserem Innern hinterlassen. Das war ihre Meinung, sagt Gertrud Born, die jetzt Dölling heißt. Ich weiß, daß sie darin nur fester wurde, je länger sie darüber nachdachte. Du siehst, sie war einseitig, natürlich war sie das.
    Wieso natürlich, Gertrud Born?
    Da sieht sie mich an wie einen, der die einfachstenDinge nicht versteht. Wie könnte denn alles, was passiert, für jeden Menschen zur Tatsache werden? Sie hat sich die Tatsachen herausgesucht, die zu ihr paßten – wie jeder, sagte sie still. Übrigens war sie süchtig nach Aufrichtigkeit.
    Olala, sagt Blasing, und er droht sogar mit dem Finger: Unsere ewige Schwärmerin! Er war es ja selbst, der das Spiel eingeleitet hat, in der Silvesternacht, zwischen zwei und drei, als niemand mehr etwas ernst nahm. Er stellte auch die erste Frage: Was halten Sie für unerläßlich für den Fortbestand der Menschheit? Jeder schrieb seine Antwort auf die Rückseite von Justus’ Milchsollerfüllungsformularen, kniffte das Papier und gab es an seinen linken Nebenmann
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