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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T.
Autoren: Christa Wolf
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Schicht, in die man schwerer vordringt als unter die Erdrinde oder in die Stratosphäre, weil sie sicherer bewacht ist: von uns selbst.
    Ich hätte sie leben lassen.
    Um mich, wie an jenem Morgen, immer wieder an ihren Tisch zu setzen. Zu Justus, der die Teekanne hereinbringt, zu den Kindern, die stumm vor Freude sind, weil ihr Lieblingsgebäck auf ihren Tellern liegt.
    Die Sonne stieg erst auf, rot und kalt. Es lag Schnee. Wir nahmen uns Zeit zum Frühstücken. Bleibt noch, sagte Christa T. Aber wir fuhren ab.
    Ich, wenn ich uns erfinden dürfte, hätte uns Zeit gegeben.

20
    Nun also der Tod. Der braucht ein Jahr, und dann ist er fertig, er läßt keinen Zweifel aufkommen, daß er erreicht hat, was möglich war, er scheut die Festlegungen nicht, denn er braucht sie. Daher läßt sich nicht viel über ihn sagen.
    Müssen wir also vom Sterben sprechen.
    Es kündigt sich mit einer ärgerlichen Steigerung ihrer Müdigkeit an, die zuerst nicht auffiel. Maßlos müde, sagte sie. Der Arzt gibt ihr Stärkungsmittel. Todmüde, sterbensmüde. Jetzt komm ich schon die Treppen nichtmehr hoch. – Aber was heißt hier »schon«? – Gerade jetzt, wo wir einziehen wollen ... Ja, was ist denn: gerade jetzt?
    Eines Vormittags wird sie bewußtlos. Justus findet sie auf der Truhe, an die Wand gelehnt. Das ist im März, zwei Wochen vor ihrem Umzug in das Haus.
    Nach den ersten Untersuchungen im Krankenhaus heißt es: Zu spät. Der Hämoglobingehalt des Blutes hat die kritische Grenze unterschritten. In diesem Bereich sind wir machtlos.
    Nach der Blutübertragung kehrt ein vages, leicht wieder verschwimmendes Bewußtsein zurück. Sie nahm wohl wahr, daß sie fuhr. Wohin? fragte sie schwach. – Da sie die Grenze überschritten hat, gelten andere Gesetze, in dem Land, in dem sie ist, spricht man mit sanfter Stimme die Unwahrheit: Mach dir keine Sorgen, Krischan. In G. bist du besser versorgt.
    Lächeln kann sie nicht, aber sie will doch Teilnahme zeigen, die Schwäche hat noch nicht den Grad erreicht, wo die Rücksicht auf andere aufhört.
    Ich mach schon Sachen, sagt sie. Dann schwinden ihr wieder die Sinne.
    In G. hat man Nachricht, wie es um sie steht. Man schiebt sie ins Sterbezimmer. Mein Gott, sagte die Schwester, so eine junge Frau aber auch. Und in ihrem Zustand ...
    Als sie ein Jahr später wirklich starb, kam sie nicht ins Sterbezimmer. Justus meinte, sie könnte es wiedererkennen, wenn sie noch einmal zu sich käme. Man stellte einen Wandschirm um ihr Bett.
    Angst hat sie zuerst nicht, ihr fehlt die Kraft, das Bewußtsein einer Gefahr zu erlangen. »In Todesgefahrschweben« ist ein guter Ausdruck, wirklich kann man sich den Aufenthalt in jenem Bereich nur schwebend vorstellen. Auch die Schatten des Todes wird es wohl geben, wie ja »dort« überhaupt äußerste Unbestimmtheit an Farben, Formen, Lauten, Gerüchen herrschen mag. Es vergeht einem Hören und Sehen, aber auch der Schmerz, auch die Angst. Die Grenzen werden wohl verschwimmen. Die eigenen Umrisse scheinen sich zu dehnen, dafür hebt man sich, wie in manchen Träumen, nicht mehr klar von seinem Hintergrund ab. Ein Ineinanderübergehen hebt an, ein Austausch von Elementen, den man empfinden und wovon einem vielleicht eine undeutliche Erinnerung bleiben mag, erstaunlich, merkwürdig bewegend, aber nicht ganz unbekannt: Wie soll man sich das erklären? Diese Erinnerung wird nicht dauerhaft sein und gewiß nicht ängstigend.
    Die Angst kommt mit dem Bewußtsein, als Schock. Ich bin wohl sehr krank? kann man, erwachend, die Schwester fragen. Kein Zweifel, daß sie abwehren wird: Aber woher denn, wo denken Sie denn hin!
    Da wehrt sie aber nicht ab. Da sagt sie nur: Es geschehen manchmal Wunder, ich selbst, wie ich hier stehe, habe schon welche mit angesehen.
    Dann stehen die Ärzte um das Bett, die lateinischen Ausdrücke hinüber und herüber, ein bißchen zu sehr verlassen sie sich wohl auf die Bewußtseinstrübung der Patientin, so fällt im Eifer des Streites das Wort, das sie nicht hören dürfte: Leukämie.
    Ist es das, Frau Doktor, sagen Sie mir bitte die Wahrheit, ich will die Wahrheit wissen.
    Aber woher denn, wo denken Sie denn hin!
    Wenn die Wahrheit so aussieht, wie sie aussieht, kommtman ohne sie aus. Dann will sie lieber hören, was man ihr bereitwillig, wenn auch ein wenig zu wortreich, erklärt: Von den gefährlichen und den harmlosen Varianten einer jeden Krankheit, von Krankheiten, die sich am Anfang sehr wild anstellen, dann aber mit sich reden lassen,
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