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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Einleitung
    Mein Leben lang war ich Nomadin. Ich zog umher, ohne Wurzeln. Wo immer ich mich niederließ, musste ich wieder weg, jede Gewissheit, die man mir beibrachte, musste ich wieder aufgeben.
    Ich wurde 1969 in Mogadischu in Somalia geboren. Als ich noch sehr klein war, kam mein Vater für seine Arbeit in der politischen Opposition gegen die brutale Diktatur ins Gefängnis. Ihm gelang die Flucht ins Exil. Als ich acht war, brachte meine Mutter mich und meine Geschwister nach Saudi-Arabien, wo wir mit ihm leben sollten. Ein Jahr später wurden wir des Landes verwiesen und zogen nach Äthiopien, wo die Oppositionsgruppe meines Vaters ihr Hauptquartier hatte. Nach rund achtzehn Monaten siedelten wir erneut um, diesmal nach Kenia.
    Jedes Mal, wenn wir in ein neues Land kamen, wurde ich völlig unvorbereitet mit neuen Sprachen und völlig anderen Einstellungen konfrontiert. Jedes Mal unternahm ich die verzweifelten, häufig erfolglosen Versuche eines Kindes, sich anzupassen. Die einzige Konstante in meinem Leben war das beharrliche Festhalten meiner Mutter am Islam.
    Mein Vater verließ Kenia und uns, als ich elf war. Erst mit einundzwanzig sah ich ihn wieder. Während seiner langen Abwesenheit war ich unter dem Einfluss einer Lehrerin zu einer leidenschaftlichen, frommen Muslimin herangewachsen. Acht Monate verbrachte ich in dieser Zeit in Somalia und erlebte dort den Beginn des Bürgerkriegs sowie das Chaos und die Brutalität der großen Massenflucht 1991, als das halbe Land floh und dreihundertfünfzigtausend Menschen starben.
    Als ich zweiundzwanzig war, befahl mir mein Vater, einen mir völlig fremden Verwandten zu heiraten, der in Kanada lebte. Ich sollte auf dem Flug dorthin einen Zwischenstopp in Deutschland einlegen, um mein kanadisches Visum abzuholen, und dann in seine Heimatstadt Toronto weiterfliegen. Stattdessen folgte ich einem verzweifelten Instinkt und brannte durch. Ich nahm einen Zug nach Holland. Diese Reise war belastender als alle anderen zuvor. Bei dem Gedanken, welche Folgen mein Tun haben würde und was mein Vater und der Clan unternehmen würden, wenn sie merkten, dass ich geflohen war, schlug mir das Herz bis zum Hals.
    In Holland erfuhr ich, wie freundlich Fremde sein können. Ich hatte mit diesen Menschen nichts zu tun, und trotzdem gaben sie mir Nahrung und Unterkunft, brachten mir ihre Sprache bei und erlaubten mir zu lernen, was immer ich wollte. Holland war völlig anders als alle Länder, in denen ich bis dahin gewesen war. Es war friedlich, stabil, wohlhabend, tolerant, großzügig und durch und durch gut. Während ich Holländisch lernte, setzte ich mir ein geradezu unsäglich ehrgeiziges Ziel: Ich wollte Politikwissenschaft studieren, wollte erfahren, wie diese Gesellschaft, obwohl sie mir gottlos zu sein schien, so gut funktionierte, wo doch alle Gesellschaften, die ich bis jetzt erlebt hatte – egal, wie muslimisch sie sich gaben –, zersetzt gewesen waren durch Korruption, Gewalt, Egoismus und Arglist.
    Lange schwankte ich zwischen den klaren Idealen der Aufklärung, die ich an der Universität kennenlernte, und meiner Unterwerfung unter die nicht weniger eindeutigen Gebote Allahs, gegen die ich nicht aufzubegehren wagte. Mein Studium verdiente ich mir als Dolmetscherin für Somali bei den niederländischen Behörden, und bei meiner Arbeit begegnete ich vielen Muslimen in schlimmen Lebenslagen: in Einrichtungen für misshandelte Frauen, in Gefängnissen, in Förderschulen. Damals vermied ich bewusst, eins und eins zusammenzuzählen, und so stellte ich noch keine Verbindung her zwischen ihrem Glauben an den Islam und der Armut, der Unterdrückung der Frauen und fehlender Wahlfreiheit.
    Ironischerweise hat mich ausgerechnet Osama bin Laden von den Scheuklappen befreit. Nach dem 11. September 2001 konnte ich die Augen nicht mehr vor bin Ladens Behauptung verschließen, der Mord an Unschuldigen (wenn auch Ungläubigen) sei mit dem Koran vereinbar. Ich las den Koran und stellte fest, dass es stimmte. Für mich war damit klar, dass ich nicht länger Muslimin sein konnte. Und da merkte ich auch, dass ich in Wahrheit schon lange keine Muslimin mehr war.
    Als ich begann, öffentlich über dieses Thema zu sprechen, erhielt ich die ersten Todesdrohungen. Doch ich wurde auch gebeten, auf der Liste der marktwirtschaftlich orientierten Liberalen Partei für einen Sitz im holländischen Parlament zu kandidieren. Als junge schwarze Parlamentsabgeordnete, die oft von einem Bodyguard
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