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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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und schielte in den Abgrund mit den wirbelnden Schaumkronen und den zerklüfteten Felsen, die aus der Tiefe an seinen Füßen zu ziehen schienen. »Die ganze Aufregung ist schlecht für die Verdauung.« Er straffte die Schultern. »Wenn ich’s mir recht überlege, habe ich ziemlich wenig zu Mittag gegessen.«
    »Das tut mir leid.«
    »Was halten Sie von einer Tasse Tee? Dieser Brian hat mir eine Thermoskanne mitgegeben, und ich habe auch noch eine Packung Minzkuchen dabei.«
    »Wollen Sie sich über mich lustig machen?«, fragte Abdul Wahid. »Halten Sie mich für ein Kind, das man mit Essen umstimmt?«
    »Ganz und gar nicht«, entgegnete der Major und gab die lässige Herangehensweise sofort auf. »Ich habe einfach große Angst, wie Sie sich vielleicht denken können – und ich friere ein bisschen.«
    »Ist es kalt?«, fragte Abdul Wahid.
    »Sehr. Würden Sie nicht lieber irgendwohin gehen, wo es gemütlich ist, und die ganze Sache bei einem schönen warmen Essen besprechen?«
    »Haben Sie Amina gesehen?«, fragte Abdul Wahid. Der Major nickte. »Kommt sie durch?«
    »Sie hat im Krankenwagen nach Ihnen gefragt. Ich kann Sie zu ihr fahren. Ich habe mein Auto hier.« Abdul Wahid schüttelte den Kopf und rieb sich mit dem Handrücken die Augen.
    »Es hatte nie sein sollen«, sagte er. »Jeden Tag mehr Probleme, mehr Kompromisse. Ich sehe es jetzt ein.«
    »Das stimmt einfach nicht«, widersprach der Major. »Sie reden wie ein Narr.« Er hörte den verzweifelten Unterton in seiner eigenen Stimme.
    »Ich schäme mich so!«, fuhr Abdul Wahid fort. »Die Schande hängt wie eine Kette an mir. Ich würde das alles so gern im Meer von mir abwaschen und rein sein für …« Er unterbrach sich abrupt, und der Major spürte, dass der junge Mann sich nicht einmal für würdig erachtete, den Namen seines Schöpfers auszusprechen.
    »Mit Schamgefühlen kenne ich mich aus«, sagte der Major. Er hatte vorgehabt, Abdul Wahid darauf hinzuweisen, dass der Islam den Selbstmord verbot, aber in Anbetracht von Wind, Regen und hundertfünfzig Meter senkrecht abfallenden Klippen schien ihm die erneute Aufzählung von Regeln, die seinem Gegenüber längst vertraut waren, wenig konstruktiv zu sein. »So etwas kennt doch jeder. Schließlich sind wir alle nur engstirnige kleine Menschenwesen, die auf der Erde herumkriechen und nach ihrem eigenen Vorteil streben. Und dabei genau die Fehler machen, für die sie ihre Nachbarn verachten.« Als er einen Blick über den schartigen Rand der Kalkwand riskierte, drehte sich ihm angesichts der zackigen Felsen der Magen um, und beinahe hätte er den Faden verloren. »Ich glaube, jeder von uns wacht jeden Morgen mit den besten Absichten auf, und wenn es dunkel wird, haben wir alle doch wieder versagt. Manchmal glaube ich, dass Gott die Dunkelheit nur deshalb erschaffen hat, damit er uns nicht ständig sehen muss.«
    »Sie sprechen von den Bürden der Menschheit, Major. Aber was ist mit der Schande des Einzelnen, die einem die Seele verbrennt?«
    »Also, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte der Major, »dann sehen Sie sich dieses Gewehr an, auf das ich unglaublich stolz bin.« Beide schauten zu, wie die Regentropfen auf den glänzenden Schaft und den matten Stahllauf fielen. »Mein Vater gab mir auf dem Sterbebett ein Gewehr und das andere meinem jüngeren Bruder, und ich verzehrte mich vor Enttäuschung, weil er mir nicht beide überlassen hatte, und dachte nur mehr an diese Kränkung, während er vor mir mit dem Tod rang. Und ich dachte daran, als ich die Grabrede für ihn schrieb, und ja, zum Teufel, ja, ich dachte noch immer daran, als letzten Herbst mein Bruder starb.«
    »Das war Ihr Recht als ältester Sohn.«
    »Diese beiden Gewehre erfüllten mich mit größerem Stolz als Ihre Tante Jasmina. Um dieser Gewehre willen enttäuschte ich die Frau, die ich liebe, vor einer ganzen Ansammlung von Menschen, die ich zum größten Teil kaum ertragen kann. Ich ließ sie ziehen, und die Scham, die ich deswegen empfand, wird nie im Leben vergehen.«
    »Ich ließ sie ziehen, um in den Besitz ihres ganzen irdischen Hab und Guts zu gelangen«, sagte Abdul Wahid leise. »Auch diese Schuld wird durch meinen Tod getilgt.«
    »Das ist doch keine Lösung«, entgegnete der Major. »Die Lösung besteht darin, alles wieder in Ordnung zu bringen oder sich wenigstens tagtäglich darum zu bemühen.«
    »Ich habe es versucht, Major. Aber letztendlich kann ich meinen Glauben und mein Leben einfach nicht in Einklang
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