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Seelenasche

Titel: Seelenasche
Autoren: Vladimir Zarev
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Erstes Kapitel
1
    Ein Strahlenbündel durchschnitt das Büro des Direktors und steigerte die Erscheinung zu schmerzhafter Klarheit. Das Gesicht des Mannes gegenüber lag in diffusem Dunkel. Christo sah es wie durch Rauchglas, eine feine Wolke verdampfenden Lichts. Der Mann strahlte eine sonderbare Müdigkeit aus, die einem suggerierte, dass man ihm heute Morgen gerade noch gefehlt hatte. Jeder Versuch Christos, auch nur in Gedanken Widerspruch einzulegen, musste ungehörig erscheinen. Hatte er das verdient, dieser überaus höfliche Mann? Er legte auch keine Eile an den Tag; wenn er schon einmal hier war, dann hatte er auch Zeit. Das gewünschte Ergebnis lief ihm ja nicht weg. Sein Gesicht war sonnenverbrannt, hatte die scharfen Züge eines Raubvogels und wirkte zugleich feminin überfeinert. Diese Mischung schuf eine Aura von Macht, die selbst die Hitze überwand, und von Unerbittlichkeit. Von Macht, die in alle Ritzen und Fugen drang, und liebevoller Unerbittlichkeit. Seine Augen hatten die grünliche Farbe eines abgestandenen Tümpels angenommen, und genau so versank man auch darin, langsam und unentrinnbar. Vielleicht waren sie blind, vielleicht sahen sie alles. Sein stiftkurz geschnittenes Haar schimmerte in einem edlen Silberton, die Finger seiner Hände waren feingliedrig und lang und endeten in gepflegten Nägeln, die nicht einfach weiß waren, sondern von einer aufdringlichen, sterilen Reinheit.
    Â»Kann ich ein paar Tage darüber nachdenken?«, fragte Christo.
    Â»Nein«, antwortete der Mann, lachte dröhnend und stieß seine aufgerauchte Zigarette in die Untertasse. Rauchen im Büro der Schuldirektorin – das war ansonsten ein Ding der Unmöglichkeit, und dies unterstrich in besonderer Weise seine unsichtbare, aber umso aufdringlichere Macht.
    Â»Aber ich weiß ja noch nicht einmal Ihren Namen.«
    Â»Major Grigorov«, erwiderte der Mann in einem Ton, als sei er von dem Klang seines Namens selbst ganz überrascht. »Iwan Grigorov, verehrter Genosse Weltschev.«
    Dieses »Genosse« begleitete er mit einem gewissen Spott in der Stimme, der zugleich sagen wollte: Nun kommen Sie schon, machen Sie es nicht so spannend! Dann bekommen Sie auch eine von meinen Zigaretten! Er rauchte Marlboro 100 im Softpack, die man nur in Korekom-Geschäften oder in den Duty-free-Shops am Flughafen bekam.
    Â»Wir haben jetzt gerade Mathe«, sagte Christo dümmlich und wurde rot.
    Â»Tatsächlich?«
    Â»Genosse Petkov wollte mich heute an die Tafel holen.«
    Â»Das macht er dann in der nächsten Stunde.«
    Â»Er ist bestimmt total wütend.«
    Â»Keine Sorge, Genosse Weltschev, Ihr Mathematiklehrer wird sich schon wieder einkriegen.«
    Dieses Wort »einkriegen« klang eher nach Krieg und Einsatzbefehl als nach Frieden und Waffenstillstand. Petkov, ihr Mathelehrer, war ein glatzköpfiger, korpulenter Mann, der immer, sogar im Winter, schwitzte. Er verströmte das Ungestüm eines Mannes, der an der Schwelle zu einer bahnbrechenden Entdeckung stand. Vielleicht nannten die Schüler ihn ja wegen dieses konzentrierten Ungestüms »der Bison«.
    Bei der letzten Klassenarbeit hatte Christo alle fünf Aufgaben von seiner Mitschülerin Galia abgeschrieben; der Bison musste ihm ein Sehr gut geben, hatte diese Benotung aber mehrfach wütend unterstrichen und ihm angekündigt, ihn über den gesamten Stoff an der Tafel zu prüfen. Bis zum 24. Mai, dem Fest der bulgarischen Schriftkultur, an dem die elfte Klasse endete, waren es keine vier Wochen mehr. Mit gefälschten Krankenscheinen und sonstigen Tricks hatte Christo seinen Kopf bisher aus der Schlinge ziehen können, doch für heute hatte er keine Entschuldigung. Er schlug sich achtbar in Trigonometrie, weil er Privatstunden bei Galias Mutter genommen hatte, aber das Übrige? Die Angst saß in seinem Kopf wie kaltes Gebein. In der großen Pause vor der Mathestunde hatte er sich in der Kantine eine Flasche sämigen Weizentrunk gekauft, dessen Flüssigkeitsanteil sich sofort in den süßlich-klebrigen Schweißfilm seiner Angst verwandelte. Der Bison schloss das Klassenbuch mit einem Schlag, als knalle er eine Tür zu; dann öffnete er sein zierliches Notizbuch mit den Benotungen, schaute Christo durch die Hornbrille an – und genau in diesem Moment war der Pedell ins Klassenzimmer getreten.
    Â»Ein Christo Weltschev anwesend?«, fragte er
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