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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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Die kurze Distanz verstärkte die Wucht der Schrotkugeln so sehr, dass er herumwirbelte, schwer stürzte und auf dem Gras ins Rutschen geriet. Plötzlich spürte er, dass der Boden unter ihm verschwunden war. Seine Beine schlitterten über den Klippenrand hinaus und hingen in der Luft. Ohne auf den Schmerz zu achten, fuchtelte er mit beiden Händen über dem Kopf herum und spürte seinen linken Ellbogen an einen Metallstab stoßen, an dem irgendwann einmal ein Drahtzaun befestigt gewesen war. Er packte den Stab, der dem Gewicht so lange standhielt, dass er sich umdrehen konnte, der sich dann aber, wie ein stumpfes Messer kreischend, zu biegen begann. Im nächsten Augenblick landete auf seinem linken Unterarm ein Körper, Finger krallten sich in seinen Rücken und suchten wahllos Halt. Unwillkürlich zog er die Beine an und stieß mit dem linken Knie an die Klippe. Wie ein Blitz durchzuckte der Schmerz seinen Kopf. Er hörte das Rumpeln der Steine, die über den Rand kullerten. Einen klaren Gedanken konnte er nicht mehr fassen. Alles, was er wahrnahm, war sein eigenes Überraschtsein und dann den Geruch von kaltem weißem Kalk und nassem Gras.

[home]
    Fünfundzwanzigstes Kapitel
    D er Major wollte nichts anderes, als den quälenden Gedanken an den Schmerz zu vertreiben, der mit dem Licht in seinen Kopf zu sickern begann. In der warmen Dunkelheit des Schlafs ließ es sich wohl sein, dort wollte er bleiben. Stimmengemurmel, ratternde Rollwägen und der kurze Trommelwirbel von Vorhangringen, die zur Seite geschoben wurden, nährten die Illusion, er würde gleich in einer Flughafen-Lounge erwachen. Er spürte, dass seine Lider flatterten, und versuchte, sie fest zusammenzupressen. Als er sich auf die Seite legen wollte, weckte ihn ein reißender Schmerz im linken Knie mit solcher Wucht, dass er die Luft anhielt. Er tastete umher, spürte ein dünnes Laken über einer glatten Matratze und stieß mit der Hand an einen Metallpfosten.
    »Er kommt zu sich.« Jemand drückte seine Schulter aufs Bett, und dann fügte dieselbe Stimme hinzu: »Nicht bewegen, Mr. Pettigrew.«
    »’s heiß’ Major …«, flüsterte er. »Major Pettigrew.« Seine Stimme war nur mehr ein heiseres Wispern in einem Mund, der aus Packpapier zu bestehen schien. Er versuchte, sich über die Lippen zu lecken, aber seine Zunge fühlte sich an wie eine tote Kröte.
    »Hier ist etwas zu trinken«, sagte die Stimme. An seiner Unterlippe verhakte sich ein Strohhalm, und er begann, lauwarmes Wasser zu nuckeln. »Sie sind im Krankenhaus, Mr. Pettigrew, aber Sie werden wieder gesund.«
    Er glitt in den Schlaf zurück. Sein letzter Gedanke galt der Hoffnung, das nächste Mal in seinem eigenen Zimmer in Rose Lodge zu erwachen, und als er später wieder den Anstaltslärm vernahm und wieder den Druck des Neonlichts auf seinen Lidern spürte, verärgerte ihn das sehr. Aber diesmal schlug er die Augen auf.
    »Wie geht es dir, Dad?«, fragte Roger, der, wie der Major sah, die
Financial Times
auf dem Bett aufgeschlagen hatte und die Beine seines Vaters als Leseständer benutzte.
    »Ich will dich nicht von der Lektüre der Aktienkurse abhalten«, flüsterte der Major. »Wie lange bin ich schon hier?«
    »Seit ungefähr einem Tag. Weißt du noch, was passiert ist?«
    »Ich wurde am Bein getroffen, nicht am Kopf. Ist es noch da?«
    »Das Bein? Na klar«, sagte Roger. »Spürst du es nicht?«
    »Doch, natürlich. Aber ich hatte keine Lust auf böse Überraschungen.« Das Reden fiel ihm schwer, trotzdem bat er um Wasser. Roger half ihm, aus einer Plastiktasse zu trinken, aber das meiste schwappte unangenehm über die Wange und lief ihm ins Ohr.
    »Die haben jede Menge Schrot aus dem Bein geholt«, berichtete Roger. »Zum Glück sind keine Arterien betroffen, und laut Mitteilung des Arztes wurde der rechte Hoden nur ganz außen angeschossen, was bei einem Mann deines Alters keine große Rolle spielen dürfte.«
    »Herzlichen Dank«, sagte der Major.
    »Außerdem hast du dir die Bänder im linken Knie ziemlich übel gerissen, aber da ist eine Operation nicht unbedingt notwendig – entweder heilt es von selbst, oder du kommst auf eine Warteliste und lässt den Eingriff in einem Jahr oder so machen.« Roger beugte sich zu ihm hinüber, drückte dem Major zu dessen Erstaunen die Hand und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Du wirst wieder ganz gesund, Dad.«
    »Wenn du mich noch einmal küsst, muss ich davon ausgehen, dass du lügst und ich in Wahrheit im Sterbehospiz
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