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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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scheußlichen Zimmer.«
     
    Als er erwachte, war die Station abgedunkelt, und nur aus dem Schwesternzimmer am Ende des Korridors drang Licht hervor. Auf dem Nachttisch brannte eine schwache Lampe, und die Zentralheizung der Klinik atmete in der Stille der Nachtschicht ebenso ruhig wie die Patienten. Am Fußende des Betts saß jemand auf einem Stuhl. Er rief leise: »Jasmina?«, und die Gestalt kam näher. Es war Amina, in Krankenhaushemd und Bademantel.
    »Hallo«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen?«
    »Gut«, flüsterte er. »Dürfen Sie überhaupt aufstehen?«
    »Nein, ich habe mich rausgeschlichen.« Sie setzte sich behutsam auf den Bettrand. »Ich wollte Sie unbedingt sehen, bevor ich weg bin. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie Abdul Wahid gerettet haben, und für alles andere auch.«
    »Wohin wollen Sie denn? Sie heiraten doch morgen.«
    »Ich habe beschlossen, nun doch nicht zu heiraten«, sagte sie. »Meine Tante Noreen kommt gleich in der Früh, dann holen wir George und fahren sofort in ihre Wohnung, damit keiner einen Aufstand macht.«
    »Aber warum denn, um Himmels willen? Ihrer Hochzeit steht doch jetzt nichts mehr im Wege. Selbst Abdul Wahids Eltern sind inzwischen auf Ihrer Seite.«
    »Ich weiß. Sie entschuldigen sich ununterbrochen und kommen und gehen mit Geschenken und Versprechungen. Ich glaube, sie haben sogar schon zugesagt, George ein Medizinstudium zu finanzieren.«
    »Ich bin sicher, dass sie in Bezug auf die alte Dame ahnungslos waren«, sagte der Major. »So etwas ist einfach unvorstellbar.«
    »So etwas passiert häufiger, als Sie denken. Aber ich glaube ihnen jetzt, dass sie das nicht wollten. Heute wird die alte Schachtel nach Hause geschickt.«
    »Kommt sie nicht ins Gefängnis?«
    »Man hat keine Waffe gefunden, und ich habe der Polizei gesagt, dass es ein Unfall war.« Amina warf dem Major einen Blick zu, der besagte, dass sie genau wusste, wo sich die Stricknadel befand. »Ich wollte nicht, dass Abdul Wahid sich noch mehr schämen muss, und außerdem ist es nicht schlecht, wenn sich seine Familie mir verpflichtet fühlt.«
    »Sind Sie sicher?«, fragte er. Sie nickte. »Aber warum wollen Sie jetzt weg?« Amina seufzte und begann, kleine Stoffflusen von der dünnen Krankenhausdecke zu zupfen.
    »Wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen ist, sieht man die Dinge plötzlich anders, finden Sie nicht?« Sie sah ihn an. In ihren Augen standen Tränen. »Ich glaube, Abdul Wahid war die Liebe meines Lebens, und ich war bereit, alles aufzugeben, um mit ihm zusammen zu sein.« Sie zupfte immer heftiger an der Decke, bis aus einer fadenscheinigen Stelle ein Loch geworden war. Der Major hätte ihrer zerstörerischen Hand am liebsten Einhalt geboten, wollte die junge Frau jedoch nicht unterbrechen. »Aber sehen Sie mich wirklich ein Leben lang hinter der Ladentheke stehen?«, fragte sie. »Regale einräumen, mit den alten Kundinnen plaudern, Buchhaltung machen?«
    »Abdul Wahid liebt Sie. Ihretwegen ist er kurz vor dem Tod doch noch umgekehrt.«
    »Ich weiß. Setzt mich auch gar nicht unter Druck, was?« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang nicht. »Verliebt sein reicht nicht. Wichtig ist, wie man den Alltag verbringt, was man zusammen macht, welche Freunde man hat, und am allerwichtigsten ist die Arbeit. Ich bin Tänzerin. Ich muss tanzen. Wenn ich das Tanzen aufgeben und den Rest meines Lebens damit verbringen würde, Schweinefleischpasteten einzupacken und Äpfel zu wiegen, wäre ich irgendwann nur noch wütend auf ihn. Er sagt zwar, dass ich auch tanzen darf, aber in Wahrheit erwartet er meine volle Mithilfe im Laden. Dann wäre er auch bald nur noch wütend auf mich. Es ist besser, sein Herz und meines jetzt gleich zu brechen, als mit anzusehen, wie sie mit der Zeit verdorren.«
    »Und was ist mit George?«
    »Ich wollte, dass George eine richtige Familie hat, mit Mummy und Daddy und einem Hund und vielleicht sogar einem Geschwisterchen. Aber das ist doch nur ein gerahmtes Foto auf irgendeinem Kaminsims und nichts Wirkliches, oder?«
    »Ein Junge braucht einen Vater.«
    »Wenn ich das selbst nicht besser als jeder andere wüsste, wäre ich morgen schon auf dem Weg nach London.«
    Sie schlang die Arme zaghaft um die Brust und sagte in einem Ton, der den Major davon überzeugte, dass sie viel darüber nachgedacht hatte: »Die meisten Leute, die mir das in den letzten Jahren vorgeworfen haben, wissen nicht mal ansatzweise, was sie damit eigentlich sagen wollen. Die haben keine
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