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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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Roger schließlich. »Es wurde während deiner Rettung weggetreten oder was auch immer und ist über die Klippe gefallen, und Abdul Wahid sagt, er hat gesehen, wie es an den Felsen zerschellte.« Er stockte und beugte den Kopf zu seinem Vater hinunter. »Sie haben es nicht gefunden.«
    Der Major schloss die Augen und sah es vor sich. Er roch wieder den kalten Kalk, spürte das vergebliche Zappeln seiner Halt suchenden Beine, das qualvolle Dahinrutschen seines Körpers, den das Meer wie ein Magnet anzuziehen schien. Und ganz am Rand seines Blickfelds nahm er die Flinte wahr, wie sie schneller und schneller über das nasse Gras glitschte, kurz vor dem Klippenrand einen gemächlichen Kreis beschrieb und vor Abdul Wahid und ihm hinabstürzte.
    »Ist alles in Ordnung mit dir, Ernest?«, fragte Jasmina. Der Major blinzelte die Szene weg und fragte sich, ob es eine wirkliche Erinnerung oder nur eine Vision gewesen war. Der Kalkgeruch verschwand aus seiner Nase; nun wartete er darauf, dass ein überwältigender Schmerz einsetzte. Zu seiner Überraschung brachte er jedoch nur eine vage Enttäuschung auf, wie man sie empfindet, wenn der Lieblingspullover versehentlich in die Kochwäsche geraten und zu einem filzigen Ding geschrumpft ist, das gerade einmal einem kleinen Terrier passen würde.
    »Bekomme ich irgendwelche Medikamente?«, fragte er mit geschlossenen Augen, und Roger sagte, er werde im Krankenblatt nachsehen. »Ich fühle nämlich nichts.«
    »O mein Gott, er ist gelähmt«, rief Roger.
    »Nein, ich meine wegen der Flinte. Ich bin viel weniger bestürzt, als ich sein sollte.«
    »Nach diesen zwei Gewehren hast du dich gesehnt, solange ich dich kenne«, sagte Roger. »Immer wieder hast du gesagt, dass Großvater sie zwar auseinandergerissen hat, sie aber eines Tages wieder vereint sein würden.«
    »Ich habe mich nach dem Tag gesehnt, an dem ich vielen Leuten, die ich für wichtiger erachtete als mich selbst, wichtig erscheinen würde«, entgegnete der Major. »Ich war arrogant. Ist wohl genetisch bedingt.«
    »Eine wirklich nette Äußerung über jemanden, der die ganze Nacht an deinem Bett gewacht hat«, sagte Roger. »Hey, schau mal, Sandy hat mir eine Nachricht geschickt.«
    »Haben Sie nicht gerade eben einer anderen Frau einen Heiratsantrag gemacht?«, fragte Jasmina.
    »Ja, schon, aber ich hatte letzte Nacht viel Zeit zum Nachdenken, und da kam mir die Idee, dass es mit einer langen SMS vom Sterbebett meines Vaters aus klappen könnte.«
    »Tut mir leid, dich so enttäuschen zu müssen«, sagte der Major. »Mit deiner Grabrede für mich hättest du sie garantiert beeindruckt.«
    »Es tut mir leid, dass du das Gewehr verloren hast, das dir dein Vater geschenkt hat, Ernest«, warf Jasmina ein. »Aber du hast es verloren, weil du einem Menschen das Leben gerettet hast. Für mich und viele andere bist du ein Held.«
    »Es war Berties Gewehr, um genau zu sein.« Der Major wurde wieder schläfrig und gähnte. »War zufällig als Erstes zur Hand. Es ist nicht mein Gewehr, das da am Grund des Ärmelkanals liegt.«
    »Im Ernst?«, fragte Roger.
    »Ja, und ich bin froh darüber. Jetzt muss mich niemand mehr daran erinnern, dass es Zeiten gab, in denen mir das Ding wichtiger war als mein Bruder.«
    »Ach du Scheiße!«, rief Roger und hob den Blick von den Tasten seines Handys. »Jetzt müssen wir Marjorie fünfzigtausend Pfund zahlen und stehen mit leeren Händen da.«
    »Das wird wohl die Versicherung übernehmen«, sagte der Major. Er hielt sich mit letzter Kraft wach, um Jasminas lächelndes Gesicht noch ein wenig länger betrachten zu können.
    »Welche Versicherung?«, fragte Roger skeptisch. »Waren die Gewehre die ganze Zeit über versichert?«
    »Die Versicherung war nie ein Problem«, erklärte der Major und schloss die Augen. »Nach dem Tod meines Vaters zahlte meine Mutter die Prämien weiter, und nach ihrem Tod übernahm ich das.« Er schlug die Augen kurz wieder auf, weil er Jasmina etwas Wichtiges sagen wollte. »Ich bin sehr stolz darauf, dass ich jede Rechnung zu bezahlen pflege – sonst gerät ja die ganze Hauswirtschaft in Unordnung …«
    »Du bist müde, Ernest. Du solltest dich ausruhen nach all der Aufregung.« Sie legte ihre Hand an seine Wange, und er fühlte sich so, wie ein kleines Kind sich fühlt, wenn die Hand der Mutter das nächtliche Fieber kühlt.
    »Muss dich noch fragen, ob du mich heiratest«, murmelte er, während er in den Schlaf hinüberglitt. »Aber nicht in diesem
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