Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
Vom Netzwerk:
[home]
    Erstes Kapitel
    M ajor Pettigrew war noch ganz aufgewühlt von dem Anruf seiner Schwägerin und öffnete, nachdem es geklingelt hatte, gedankenverloren die Tür. Auf den feuchten Wegplatten stand Mrs. Ali aus dem Dorfladen. Sie zuckte kaum merklich zusammen, zog nur kurz eine Augenbraue hoch. Schlagartig erröteten die Wangen des Majors vor Verlegenheit, und in einer hilflosen Geste glättete er mit Händen, die sich wie Schaufeln anfühlten, die knopflose Leiste seines purpurfarbenen, clematisgeblümten Hausmantels.
    »Ah«, sagte er.
    »Major?«
    »Mrs. Ali?« Es entstand eine Pause, die sich langsam ausdehnte wie das Universum, das, wie er vor kurzem gelesen hatte, mit zunehmendem Alter größer wurde. Von einer Art »Vergreisung« war in der Sonntagszeitung die Rede gewesen.
    »Ich sammle das Geld für die Zeitung ein. Der Zeitungsjunge ist krank«, sagte Mrs. Ali. Sie reckte ihren zierlichen Körper und verlieh ihrer Stimme einen energischen Klang, der ganz anders war als der leise, akzentuierte, runde Ton, in dem sie mit ihm über die Beschaffenheit und den Duft der Teemischungen zu sprechen pflegte, die sie speziell für ihn herstellte.
    »Ach ja, natürlich, entschuldigen Sie bitte!« Er hatte vergessen, das Geld für diese Woche in einem Umschlag unter die Matte draußen vor der Tür zu legen. Er begann, nach seinen Hosentaschen zu tasten, die sich irgendwo unter den Clematisblüten befanden. Seine Augen tränten. An die Taschen kam er nur heran, indem er den Saum des Morgenmantels schürzte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er noch einmal.
    »Kein Problem.« Mrs. Ali trat einen Schritt zurück. »Sie können es später im Laden vorbeibringen – irgendwann, wenn es besser passt.« Als sie sich bereits zum Gehen gewandt hatte, überkam den Major das dringende Bedürfnis, alles zu erklären.
    »Mein Bruder ist nämlich gestorben«, sagte er. Mrs. Ali drehte sich um. »Mein Bruder ist gestorben«, wiederholte er. »Heute Morgen habe ich es am Telefon erfahren. Ich hatte noch keine Zeit.« In der hohen Eibe vor der westlichen Außenwand des Cottages hatte unter rosarot gefärbtem Himmel noch der frühmorgendliche Chor gezwitschert, als das Telefon klingelte. Jetzt wurde dem Major, der zeitig aufgestanden war, um seinen wöchentlichen Hausputz zu absolvieren, bewusst, dass er seitdem wie gelähmt dagesessen hatte. Unbeholfen deutete er auf seine sonderbare Aufmachung und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Plötzlich gaben seine Knie nach, er spürte das Blut aus dem Kopf sacken und stieß mit der Schulter gegen den Türpfosten, aber da war Mrs. Ali schon bei ihm und fing ihn auf.
    »Ich glaube, ich bringe Sie besser hinein, damit Sie sich setzen können«, sagte sie leise und klang dabei besorgt. »Wenn es recht ist, hole ich ein Glas Wasser.« Da der Major in Armen und Beinen kaum mehr ein Gefühl hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Mrs. Ali geleitete ihn über den unebenen Steinboden des schmalen Flurs und drückte ihn in den Ohrensessel gleich neben der Tür des hellen, ringsum mit Büchern bestückten Wohnzimmers. Genau diesen Sessel mochte er am allerwenigsten – die Polsterung war klumpig, und sein Hinterkopf kam genau an einem harten Querholz zu lehnen –, aber an Einwände war in diesem Zustand nicht zu denken.
     
    »Es stand auf dem Abtropfgitter«, sagte Mrs. Ali und hielt ihm das weite Glas hin, in das er sein herausnehmbares Teilgebiss über Nacht zu legen pflegte. Von dem leichten Minzgeschmack wurde ihm übel. »Geht es schon ein bisschen besser?«
    »Ja, viel besser.« In seinen Augen standen Tränen. »Sehr freundlich von Ihnen …«
    »Soll ich Ihnen einen Tee machen?« Ihr Angebot gab ihm das Gefühl, schwach und bedauernswert zu sein.
    »Ja bitte.« Sie sollte nur endlich aus dem Zimmer gehen, damit er wenigstens einen Anschein von Lebenskraft zurückgewinnen und den Hausmantel loswerden konnte.
    Merkwürdig, dachte er, wieder einmal zu hören, wie eine Frau in der Küche mit Teetassen klappert. Nancy, seine Ehefrau, lächelte auf dem Foto vom Kaminsims herab. Ihr gewelltes braunes Haar war zerzaust, die sommersprossige Nase vom Sonnenbrand leicht rosarot gefärbt. Im Mai jenes verregneten Jahres, 1973 musste das gewesen sein, waren sie nach Dorset gefahren, und plötzlich hatte den windigen Nachmittag ein Sonnenstrahl erhellt – nur kurz, aber lang genug, um ein Foto von ihr schießen zu können, als sie wie ein junges Mädchen von der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher