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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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Festungsmauer von Corfe Castle herunterwinkte. Sechs Jahre war sie nun schon tot. Und jetzt war auch Bertie gestorben. Er blieb zurück, von allen alleingelassen, das letzte Familienmitglied seiner Generation. Er schloss die Hände, um das leichte Zittern zu stillen.
    Gut, Marjorie war noch da, seine unangenehme Schwägerin, aber die hatte er in Übereinstimmung mit seinen verstorbenen Eltern nie wirklich akzeptiert. Ständig gab sie lautstark ihre undurchdachten Ansichten zum Besten, obendrein mit einem nordenglischen Akzent, der am Trommelfell kratzte wie ein stumpfes Rasiermesser. Hoffentlich war sie jetzt, nach Berties Tod, nicht auf mehr Vertraulichkeit aus. Er würde sie um ein neueres Foto bitten und natürlich um Berties Jagdgewehr. Vater hatte, als er jedem seiner Söhne eine der beiden zusammengehörenden Flinten schenkte, klar und deutlich gesagt, dass sie im Todesfall eines Bruders an den jeweils anderen gegeben werden sollten, um innerhalb der Familie als Paar weitergereicht zu werden. Das Gewehr des Majors war all die Jahre einsam und allein in der für zwei Flinten angefertigten Kiste aus Walnussholz gelegen; eine Vertiefung in der Samtauskleidung kündete von der Abwesenheit des Gegenstücks. Gemeinsam würden sie jetzt wieder ihren vollen Wert erreichen – um die hunderttausend Pfund, seiner Schätzung nach. Nicht dass er auch nur im Traum daran dachte, sie zu verkaufen. Einen Moment lang hatte er deutlich vor Augen, wie er bei der nächsten Jagd – unten am Fluss vielleicht, bei einer der ständig von Kaninchen geplagten Farmen – auf die Jagdgesellschaft zuging, die beiden Gewehre lässig über den Arm gekippt.
    »Mein Gott, Pettigrew, sind das etwa zwei zusammengehörende Churchills?«, würde einer sagen – vielleicht sogar Lord Dagenham persönlich, falls er an diesem Tag mit von der Partie sein sollte –, und er würde daraufhin einen so beiläufigen Blick auf die beiden Flinten werfen, als hätte er das ganz vergessen, um sie dann mit den Worten »Ja, sie gehören zusammen – ziemlich schönes Walnussholz haben die damals verwendet« zur Betrachtung und Bewunderung freizugeben.
    Etwas schepperte gegen den Türpfosten und riss den Major aus seiner angenehmen Ruhepause. Es war Mrs. Ali mit einem schweren Tablett. Sie hatte ihren grünen Wollmantel ausgezogen und das Paisley-Kopftuch um die Schultern ihres schlichten dunkelblauen Kleids geschlungen, zu dem sie eine schmal geschnittene schwarze Hose trug. Dem Major wurde bewusst, dass er Mrs. Ali noch nie ohne ihre große, steif gestärkte Ladenschürze gesehen hatte.
    »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Er machte Anstalten, sich zu erheben.
    »Nein, nein, das schaffe ich schon«, entgegnete sie und trat an den Schreibtisch neben dem Sessel. Den kleinen Stapel ledergebundener Bücher stupste sie vorsichtig mit einer Ecke des Tabletts zur Seite. »Sie müssen sich ausruhen. Sie stehen wahrscheinlich unter Schock.«
    »Es kam so unerwartet. Das Telefon klingelte so absurd früh. Es war noch nicht einmal sechs, wissen Sie. Ich glaube, sie waren die ganze Nacht im Krankenhaus.«
    »Es kam unerwartet?«
    »Herzinfarkt. Ein ziemlich schwerer offenbar.« Er strich sich nachdenklich über den borstigen Schnurrbart. »Merkwürdig, irgendwie geht man ja davon aus, dass Herzinfarktpatienten heutzutage gerettet werden. Im Fernsehen ist es jedenfalls immer so.« Mrs. Ali führte die Tülle der Teekanne etwas zittrig zum Rand der Tasse. Es klirrte, und der Major befürchtete, es könnte ein Stück herausbrechen. Zu spät fiel ihm ein, dass auch Mrs. Alis Mann an einem Herzinfarkt gestorben war, vor achtzehn Monaten oder zwei Jahren etwa. »Entschuldigen Sie bitte, das war sehr unbedacht von mir …« Sie unterbrach ihn mit einer wohlwollenden Handbewegung und schenkte weiter ein. »Ihr Mann war ein guter Mensch«, fügte der Major hinzu.
    Am deutlichsten war ihm die selbstbeherrschte Art des ruhigen, rundlichen Mannes in Erinnerung geblieben. Es war nicht unbedingt alles glattgelaufen, nachdem Mr. Ali den Dorfladen der alten Mrs. Bridge übernommen hatte. Mindestens zweimal hatte der Major gesehen, wie Mr. Ali an einem kühlen Frühlingsmorgen seelenruhig die aufgesprühte Farbe von den neuen Schaufenstern kratzte. Und mehrere Male war Major Pettigrew im Laden gewesen und hatte miterlebt, wie kleine Jungs sich einer Mutprobe stellten, indem sie ihre riesigen Ohren zur Tür hineinsteckten und »Pakis raus!« brüllten. Mr. Ali hatte nur lächelnd den
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