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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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Grafschaft, war immer voll mit Einkaufsbummlern und Touristen, weshalb der Major sich über den Verkehr auf der Umgehungsstraße, mögliche Schwierigkeiten bei der Parkplatzsuche in den engen Gassen rings um die Kirche und die für die Entgegennahme der Kondolenzen benötigte Zeit ausgiebig Gedanken gemacht hatte. Spätestens um halb zwei hatte er losfahren wollen. Doch jetzt saß er reglos vor seinem Haus im Auto. Er spürte sein Blut träge wie Lava den Körper durchströmen. Ihm war, als würden seine Eingeweide schmelzen. Seine Finger fühlten sich an, als wären keine Knochen mehr in ihnen. Er schaffte es nicht, das Lenkrad fest zu umfassen. Er holte mehrmals tief Luft und stieß sie heftig aus, um seine Panik zu bekämpfen. Undenkbar, dass er das Begräbnis seines eigenen Bruders verpasste, aber ebenso undenkbar, den Zündschlüssel zu drehen. Einen Augenblick lang kam ihm der Gedanke, dass er jetzt sterben müsse. Schade, dass es nicht schon gestern passiert war. Dann hätten sie ihn zusammen mit Bertie begraben und allen die Mühe ersparen können, zweimal anzureisen.
    Es klopfte ans Wagenfenster, und als er wie im Traum den Kopf wandte, sah er Mrs. Ali. Sie wirkte sehr besorgt. Er atmete tief durch und schaffte es, den Knopf des elektronischen Fensteröffners zu drücken. Dem Wahn, alles elektronisch zu steuern, hatte er sich nur widerwillig unterworfen. Jetzt war er froh, nicht kurbeln zu müssen.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Major?«, fragte Mrs. Ali.
    »Ich denke schon. Ich habe nur kurz durchgeatmet. Bin auf dem Weg zum Begräbnis.«
    »Ja, ich weiß. Aber Sie sind sehr blass. Können Sie überhaupt fahren?«
    »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, gnädige Frau«, sagte der Major. »Schließlich bin ich der Bruder des Verstorbenen.«
    »Vielleicht steigen Sie besser erst mal aus und schnappen frische Luft«, schlug sie vor. »Ich habe hier ein kaltes Ginger Ale, das würde Ihnen bestimmt guttun.« Sie trug einen kleinen Korb, in dem ein hellgrüner Apfel, eine leicht fettige Papiertüte, die wahrscheinlich Kuchen enthielt, sowie eine schlanke grüne Flasche lagen.
    »Ja, kurz Luft schnappen«, sagte er und stieg aus dem Wagen. Der Korb entpuppte sich als kleines Carepaket, das Mrs. Ali vor seiner Haustür hatte abstellen wollen, damit er es bei seiner Rückkehr vorfand.
    »Ich wusste nicht, ob Sie daran denken würden, dass Sie essen müssen«, erklärte sie, während er das Ginger Ale trank. »Ich habe jedenfalls nach dem Begräbnis meines Mannes vier Tage lang nichts zu mir genommen und bin schließlich wegen Austrocknung im Krankenhaus gelandet.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte der Major. Mit dem kühlen Getränk im Bauch ging es ihm besser. Noch immer durchlief seinen Körper ein leichtes Zittern, doch er war viel zu besorgt, um sich dafür zu schämen. Irgendwie musste er es zu Bernies Begräbnis schaffen. Der Bus fuhr nur alle zwei Stunden. Dienstags war der Betrieb zusätzlich eingeschränkt, und der letzte Bus zurück ging um fünf Uhr nachmittags. »Ich kümmere mich mal besser um ein Taxi. Ich weiß nicht, ob ich fahren kann.«
    »Nicht nötig«, entgegnete Mrs. Ali. »Ich bringe Sie hin. Ich wollte sowieso gerade nach Hazelbourne fahren.«
    »Aber das muss nun wirklich nicht sein …« Er ließ sich nur ungern von Frauen chauffieren. Er hasste es, wenn sie zaghaft in die Kreuzungen krochen, hasste ihre schwerfällige Handhabung der Gangschaltung ohne jedes Gespür für deren Feinheiten und ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Rückspiegel. An so manchem Nachmittag war er auf den kurvigen Landstraßen einer langsamen Fahrerin hinterhergeschlichen, die ungeniert zur Musik irgendeines Pop-Senders mit dem Kopf wackelte, während die Stofftiere auf der Hutablage ihrerseits im Takt die Köpfe bewegten. »Das kann ich nicht annehmen.«
    »Bitte geben Sie mir die Ehre, Ihnen behilflich sein zu dürfen«, sagte sie. »Mein Auto steht vorn an der Straße.«
    Sie fuhr wie ein Mann, wechselte kurz vor den Kurven resolut den Gang, trat immer wieder beherzt aufs Gas und steuerte den kleinen Honda schwungvoll und genüsslich über die Hügel. Sie hatte ihr Fenster einen Spalt geöffnet, und der Luftstrom kräuselte ihr rosarotes Seidenkopftuch und blies ihr einzelne schwarze Locken ins Gesicht. Energisch strich sie sie zurück, während der Wagen mit aufheulendem Motor in großem Satz über eine kleine gewölbte Brücke schoss.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte Mrs.
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