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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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gaben vor, Engländer zu sein, manche waren sogar hier geboren, aber unter der Oberfläche lauerten diese barbarischen Vorstellungen und die Treue zu irgendwelchen fremden Bräuchen.
    »Ihr habt Glück«, sagte Mrs. Ali. »Ihr Angelsachsen habt diese Abhängigkeit von der Familie weitgehend abgelegt. Bei euch macht jede Generation, was sie will, und davor habt ihr auch keine Angst.«
    »Genau.« Der Major nahm das Kompliment ganz automatisch an, obwohl er keineswegs sicher war, dass Mrs. Ali recht hatte.
     
    Sie setzte ihn wenige Meter vor der Kirche an einer Ecke ab, und er schrieb die Adresse seiner Schwägerin auf ein Stück Papier.
    »Ich könnte aber auch mit dem Bus oder sonst irgendwie zurückfahren«, sagte er, doch da beide wussten, dass das nicht möglich war, erhob er keine weiteren Einwände. »Um sechs Uhr müssten wir fertig sein, wenn Ihnen das passt.«
    »Ja, natürlich.« Sie ergriff seine Hand und hielt sie kurz. »Ich wünsche Ihnen für heute Nachmittag viel Herzenskraft und die Liebe Ihrer Familie.«
    Den Major erfüllte ein warmes Gefühl. Er hoffte, sich dieses Gefühl bewahren zu können, obwohl ihm der schreckliche Anblick von Bertie in einem Nussbaumsarg bevorstand.
     
    Der Trauergottesdienst wies im Großen und Ganzen dieselben tragikomischen Elemente auf, die er von Nancys Begräbnis in Erinnerung hatte. Die presbyterianische, in der Jahrhundertmitte erbaute Kirche war groß und düster. Weder Weihrauch noch Kerzen oder bunte Glasfenster wie in Nancys geliebter anglikanischer Kirche St. Mary’s machten die Eintönigkeit der Betonwände erträglicher. Hier gab es keinen alten Glockenturm und keinen bemoosten Kirchhof, der mit ausgleichender Schönheit und den durch alle Zeiten hindurch immer gleichen Namen auf den Grabsteinen ein wenig Seelenfrieden hätte herstellen können. Nur die leise Genugtuung darüber, dass der Gottesdienst so gut besucht war, spendete ein wenig Trost; selbst die beiden Klappstuhlreihen ganz hinten waren besetzt. Berties Sarg stand über einer niedrigen Vertiefung im Boden, die an eine Ablaufrinne erinnerte. Irgendwann vernahm der Major zu seinem Erstaunen ein mechanisch klingendes Geräusch, und plötzlich senkte sich Bertie hinab – nur etwa zehn Zentimeter zwar, aber der Major hätte fast laut aufgeschrien und streckte unwillkürlich den Arm aus. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen.
    Sowohl Jemima als auch Marjorie hielten eine Rede. Er rechnete damit, innerlich mit Hohn und Spott darauf zu reagieren, insbesondere als Jemima, einen breitkrempigen schwarzen Strohhut auf dem Kopf, der eher zu einer schicken Hochzeit gepasst hätte, ein zu Ehren ihres Vaters selbst verfasstes Gedicht ankündigte. Das Gedicht war tatsächlich grauenhaft (ihm blieb nur in Erinnerung, dass es darin ganz im Widerspruch zur strengen presbyterianischen Lehre vor Teddybären und Engeln nur so gewimmelt hatte), aber Jemimas ehrliche Traurigkeit machte es zu etwas sehr Bewegendem. Tränennasse Wimperntusche lief über das schmale Gesicht, und zum Schluss musste ihr Mann sie fast vom Rednerpult wegtragen.
    Den Major hatte man nicht um eine Ansprache gebeten. Er hatte das als grobes Übergehen seiner Person empfunden und sich in den einsamen, schlaflosen Nächten vor der Beerdigung wieder und wieder ausführliche Kommentare dazu überlegt. Doch nachdem Marjorie kurz und tränenreich Abschied von ihrem Mann genommen hatte und sich zum Major hinüberbeugte, um zu fragen, ob er etwas sagen wolle, lehnte er ab. Zu seiner eigenen Überraschung fühlte er sich wieder schwach, und die Gefühlsaufwallung hatte bewirkt, dass er plötzlich verschwommen sah und seine Stimme verzerrt klang. Er nahm einfach nur Marjories Hände in seine, hielt sie eine Weile und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen.
    Als ihm nach dem Gottesdienst im Vorraum mit den Rauchglasscheiben alle die Hand schüttelten, rührte es ihn sehr, dass einige alte Freunde von Bertie und ihm gekommen waren, die er zum Teil viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Martin James, der mit ihnen in Edgecombe aufgewachsen war, hatte sich von Kent aus mit dem Auto auf den Weg gemacht. Berties alter Nachbar Alan Peters, der sich trotz eines tollen Handicaps nun lieber der Vogelbeobachtung widmete, war vom anderen Ende der Grafschaft gekommen. Am meisten überraschte ihn jedoch die Anwesenheit des Walisers Jones aus Halifax, eines alten Kameraden, den er noch von der Offiziersausbildung her kannte. Bertie und er hatten sich in einem
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