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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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Ali.
    Der Major wusste nicht recht, was er antworten sollte. Ihre Fahrweise erregte leichte Übelkeit in ihm; aber es war eine aufregende, irgendwie angenehme Übelkeit – so wie sie auch kleine Jungs fühlen, wenn ihnen in der Achterbahn schlecht wird.
    »Ich bin nicht mehr so schlapp wie vorhin«, antwortete er. »Sie fahren ausgezeichnet.«
    »Ich fahre gern«, sagte sie und lächelte ihn an. »Nur ich und der Motor. Keiner, der mir sagt, was ich tun soll. Keine Abrechnungen, keine Inventur – nur die Verheißungen der freien Straße und viele unbekannte Ziele.«
    »So ist es. Haben Sie schon viele Autoreisen unternommen?«
    »Nein«, antwortete sie. »Normalerweise fahre ich alle zwei Wochen in die Stadt und besorge Ware. In der Myrtle Street gibt es mehrere Läden mit indischen Spezialitäten. Ansonsten benutzen wir das Auto vor allem für Lieferfahrten.«
    »Sie sollten mal nach Schottland, beispielsweise«, sagte der Major. »Und dann wären da natürlich noch die deutschen Autobahnen. Sollen sehr angenehm zu fahren sein.«
    »Sind Sie viel in Europa herumgekommen?«
    »Nein. Nancy und ich haben zwar immer geplant, durch Frankreich und sogar bis in die Schweiz zu fahren, aber irgendwie hat es sich nie ergeben.«
    »Das sollten Sie unbedingt machen, solange es noch geht«, sagte Mrs. Ali.
    »Und Sie?«, fragte der Major. »Wohin würden Sie gerne fahren?«
    »Ach, da gäbe es viele Orte. Aber ich habe ja den Laden.«
    »Vielleicht kann Ihr Neffe den Laden schon bald allein führen«, sagte der Major.
    Mrs. Ali lachte auf, aber es klang alles andere als fröhlich.
    »Ja, ja«, sagte sie. »Schon ziemlich bald wird er den Laden führen können, und ich bin dann überflüssig.«
    Der Neffe stellte eine relativ neue und nicht sonderlich erfreuliche Ergänzung des Ladenpersonals dar. Er war ein junger, etwa fünfundzwanzigjähriger Mann, ein steif wirkender Mensch mit leicht anmaßendem Blick, der den Eindruck vermittelte, stets auf die nächste Beleidigung gefasst zu sein. Sowohl Mrs. Alis stille, anmutige Nachgiebigkeit als auch die Geduld des verstorbenen Mr. Ali gingen ihm völlig ab. Obwohl der Major es einerseits für sein gutes Recht hielt, fühlte er sich andererseits unwohl dabei, einen Mann nach dem Preis der Tiefkühlerbsen zu fragen, der nur darauf zu warten schien, genau durch diese Frage gekränkt zu werden. Überdies glaubte der Major an dem Neffen eine gewisse unterdrückte Strenge gegenüber dessen Tante zu erkennen, was er ganz und gar nicht gutheißen konnte.
    »Wollen Sie sich zur Ruhe setzen?«, fragte er.
    »Es ist mir bereits nahegelegt worden«, antwortete Mrs. Ali. »Die Verwandten meines Mannes leben in Nordengland und hoffen, dass ich mich bereit erkläre, zu ihnen zu ziehen und den mir zustehenden Platz in der Familie einzunehmen.«
    »Gewiss entschädigt eine liebevolle Familie dafür, in Nordengland leben zu müssen«, sagte Major Pettigrew, zweifelte dabei aber an seinen eigenen Worten. »Die Rolle als verehrte Großmutter und weibliches Familienoberhaupt wird Ihnen doch bestimmt gefallen?«
    »Ich habe keine Kinder, und mein Mann ist tot«, erwiderte sie mit einem scharfen Unterton. »Deshalb wird man mich eher bemitleiden als verehren. Sie erwarten von mir, dass ich meinem Neffen den Laden übergebe, damit er es sich leisten kann, eine gute Ehefrau aus Pakistan herzuholen. Dafür bekomme ich freie Unterkunft und darf die ehrenvolle Aufgabe übernehmen, mich um mehrere kleine Kinder von anderen Familienmitgliedern zu kümmern.«
    Der Major schwieg. Er war entsetzt und wollte nichts mehr davon hören. Genau deshalb unterhielten sich die Leute normalerweise nur über das Wetter. »Aber man kann Sie doch nicht dazu zwingen …«
    »Von Rechts wegen nicht«, sagte Mrs. Ali. »Mein wundervoller Ahmed hat mit der Familientradition gebrochen und dafür gesorgt, dass ich den Laden bekam. Es müssen allerdings noch einige Schulden abbezahlt werden. Andererseits – was sind schon Rechtsgrundsätze gegen die Wucht der Familienmeinung?« Sie bog links ab und zwängte den Wagen in eine kleine Lücke im auf der Küstenstraße dahinbrausenden Verkehr. »Man muss sich schon fragen, ob es den Streit wert ist, wenn man dabei am Ende die eigene Familie verliert und mit der Tradition bricht.«
    »Das ist durch und durch unmoralisch«, entgegnete der Major aufgebracht; die Knöchel seiner Hand auf der Armstütze wurden ganz weiß. Genau das war das Problem mit diesen Einwanderern, dachte er. Sie
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