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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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warnendes Beispiel für Jemimas aufsässigen Sohn. Heute klang ein vorwurfsvoller Ton mit.
    »Kommst du schon am Abend davor?«, fragte der Major.
    »Nein, ich fahre mit dem Zug. Aber warte nicht auf mich, Dad, könnte sein, dass ich aufgehalten werde.«
    »Aufgehalten?«
    »Ich ersticke in Arbeit. Bei uns ist gerade der Teufel los. Zwei Milliarden Dollar, eine komplizierte Übernahme von Unternehmensanleihen, und der Kunde ist nervös. Gib mir Bescheid, wenn der Termin feststeht, dann trage ich es als ›Höchste Priorität‹ in meinen Kalender ein, aber garantieren kann ich für nichts.«
    Der Major fragte sich, als was er normalerweise im Terminkalender seines Sohnes vermerkt wurde, und sah sich bereits mit einem kleinen gelben Haftzettel beklebt, dessen Aufschrift »wichtig, aber nicht termingebunden« oder ähnlich lautete.
     
    Das Begräbnis wurde auf Dienstag festgesetzt.
    »Der Termin passte den meisten«, erklärte Marjorie bei ihrem zweiten Anruf. »Montags und mittwochs geht Jemima in ihren Abendkurs, und ich habe am Donnerstagabend ein Bridgeturnier.«
    »Ja, es ist sicherlich in Berties Sinn, dass ihr ganz normal weitermacht«, erwiderte der Major, wobei er einen leicht bissigen Unterton aus seiner Stimme heraushörte. Bestimmt war der Begräbnistag auch in Hinblick auf freie Verschönerungstermine festgelegt worden, damit Marjories gelbliche Betonfrisur nur ja frisch gemeißelt und ihre Haut getönt oder gewachst war oder was immer sie tat, um ein wie mit Leder bespanntes Gesicht zu bekommen. »Und Freitag geht nicht?«, fragte er.
    Er hatte gerade einen Arzttermin für Dienstag vereinbart. Die Sprechstundenhilfe hatte sich in Anbetracht der Umstände überaus verständnisvoll gezeigt und es sich nicht nehmen lassen, ein Kind mit chronischem Asthma auf Freitag zu verlegen, damit sie das EKG des Majors dazwischenschieben konnte. Der Gedanke, den Termin abzusagen, behagte ihm absolut nicht.
    »Da hat der Pfarrer seinen ›Jugendliche in der Krise‹-Abend.«
    »Die Jugendlichen sind wahrscheinlich jede Woche in der Krise«, bemerkte der Major in scharfem Ton. »Mein Gott, es geht um ein Begräbnis! Sollen die doch ihre Bedürfnisse ein einziges Mal den Bedürfnissen anderer hintanstellen! Vielleicht lernen sie daraus sogar noch etwas.«
    »Der Bestattungsunternehmer meinte, Freitag wäre ein unangemessen festlicher Tag für ein Begräbnis.«
    »Ah …« Die Absurdität der Aussage macht ihn sprachlos; er gab auf. »Dann sehen wir uns also am Dienstag, gegen vier Uhr, ja?«
    »Ja. Fährst du bei Roger mit?«
    »Nein, er kommt mit dem Zug direkt aus London und nimmt sich dann ein Taxi. Ich fahre selbst.«
    »Wird das denn nicht zu viel für dich?«, fragte Marjorie. Sie klang ehrlich besorgt, und den Major durchströmte ein liebevolles Gefühl für sie. Schließlich war sie jetzt auch allein. Er bedauerte es, so wütend auf sie gewesen zu sein, und versicherte ihr freundlich, dass er durchaus in der Lage war, selbst zu fahren.
    »Und hinterher kommst du natürlich noch zu uns. Dann trinken wir was und essen ein paar Häppchen. Nichts Aufwendiges.« Er bemerkte, dass sie ihn nicht fragte, ob er über Nacht bleiben wolle. Er würde im Dunkeln nach Hause fahren müssen. Sein Mitgefühl schnurrte wieder zusammen. »Und vielleicht willst du ja etwas von Bertie haben. Du musst dir die Sachen einfach mal ansehen.«
    »Das ist sehr aufmerksam«, sagte der Major und versuchte, den Eifer zu dämpfen, der seine Stimme schlagartig erhellte. »Ich hatte ohnehin vor, zu gegebener Zeit mit dir darüber zu sprechen.«
    »Selbstverständlich«, sagte Marjorie. »Du musst unbedingt irgendein kleines Andenken mitnehmen, ein Erinnerungsstück. Bertie hätte darauf bestanden. Es sind noch ein paar neue Hemden da, die er nie getragen hat … Na, ich werde mir was einfallen lassen.«
    Als er auflegte, spürte er eine tiefe Verzweiflung. Diese Frau war grauenhaft. Er stieß um seines armen Bruders willen einen tiefen Seufzer aus und fragte sich, ob Bertie seine Wahl wohl je bereut hatte. Aber vielleicht hatte er dem Ganzen einfach keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Bei solchen Lebensentscheidungen denkt niemand an den Tod, sagte er sich. Denn wenn es anders wäre, wie würden diese Entscheidungen dann ausfallen?
     
    Die Fahrt von Edgecombe St. Mary in die nahe gelegene Küstenstadt Hazelbourne-on-Sea, den Wohnort von Bertie und Marjorie, dauerte nur zwanzig Minuten. Die Stadt, wirtschaftliches Zentrum der halben
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