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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
Autoren: Helen Simonson
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Aufblühen eines ganz neuen Interesses.
    Mrs. Ali war, so mutmaßte er, eine gebildete, kultivierte Frau. Auch Nancy war so ein außergewöhnlicher Mensch gewesen, hatte ihre Bücher geliebt und Kammerkonzerte in Dorfkirchen besucht. Aber sie hatte ihn alleingelassen, und nun musste er die geistlosen, biederen Interessen der anderen Frauen aus dem gemeinsamen Bekanntenkreis erdulden – Frauen, die beim Jagdball nur über Pferde und die Tombola sprachen und sich am liebsten darüber ereiferten, welche unzuverlässige junge Mutter aus dem Sozialwohngebiet in dieser Woche nicht zur Spielgruppe im Gemeindezentrum erschienen war. Mrs. Ali war eher wie Nancy. Ein Schmetterling inmitten dieser Taubenschar. Er gestand sich den Wunsch ein, Mrs. Ali ein weiteres Mal außerhalb des Ladens zu sehen, und überlegte, ob das möglicherweise bewies, dass er nicht ganz so verknöchert war, wie seine achtundsechzig Jahre und die Beschränkungen des Dorflebens es vermuten ließen.
    Der Gedanke gab ihm so viel Auftrieb, dass er sich der Pflicht, seinen Sohn Roger in London anzurufen, gewachsen fühlte. Er wischte seine Fingerspitzen mit einem weichen gelben Lappen ab und betrachtete konzentriert die unzähligen Chromtasten und LED -Displays des schnurlosen Telefons, das Roger ihm geschenkt hatte. Die Schnellwahl- und die Spracherkennungsfunktion seien für ältere Menschen sehr nützlich, hatte Roger gesagt. Major Pettigrew war sowohl in Bezug auf die einfache Bedienbarkeit des Geräts als auch hinsichtlich der Bezeichnung »alt« für seine Person völlig anderer Ansicht. Es war eine frustrierende Binsenweisheit, dass Kinder, sobald sie das Nest verlassen und sich in ihrem eigenen Heim eingerichtet hatten – in Rogers Fall eine glänzende, ganz in Schwarz und Messing gehaltene Penthousewohnung in einem Hochhaus, das unweit von Putney die Themse verschandelte –, ihre eigenen Eltern zu bevormunden begannen und deren Tod herbeiwünschten oder sie doch zumindest in einer betreuten Wohneinrichtung wissen wollten. Ein einziges böhmisches Dorf, dachte der Major, doch es gelang ihm, einen immer noch öligen Finger auf die Taste zu drücken, die Roger in großen, kindlich wirkenden Blockbuchstaben mit » 1  – Roger Pettigrew, VP , Chelsea Equity Partners« beschriftet hatte. Rogers private Beteiligungsgesellschaft residierte auf zwei Etagen eines hohen, gläsernen Büroturms in den Londoner Docklands. Während es mit metallischem Ticken klingelte, stellte sich der Major seinen Sohn an dessen widerlich sterilem Arbeitsplatz vor, einer Box in einem Großraumbüro mit einer ganzen Batterie von Computerbildschirmen und einem Stapel Akten auf dem Schreibtisch, die nur deshalb nicht in Schubladen lagen, weil ein sehr teurer Architekt es für unnötig gehalten hatte, welche bereitzustellen.
    Roger wusste es schon.
    »Jemima hat den Telefondienst übernommen. Das Mädchen ist zwar völlig aufgelöst, aber man glaubt es nicht – sie ruft trotzdem jeden, aber auch wirklich jeden an.«
    »Das lenkt sie ein bisschen ab«, meinte der Major.
    »Wenn du mich fragst, geht es eher darum, sich in der Rolle der verwaisten Tochter zu suhlen«, entgegnete Roger. »Ist zwar ziemlich daneben, aber so waren die ja schon immer.« Seine Stimme klang gedämpft, was den Major zu der Vermutung veranlasste, dass sein Sohn wieder einmal am Schreibtisch aß.
    »Das muss doch nun wirklich nicht sein, Roger«, sagte er streng. Sein Sohn wurde allmählich genauso selbstgefällig wie Marjorie und ihre Familie. Die Stadt war heutzutage voll von rücksichtslosen, arroganten jungen Männern, und nur wenig deutete darauf hin, dass Roger, der auf die dreißig zuging, sich diesem Einfluss je entziehen würde.
    »Entschuldige, Dad. Das mit Onkel Bertie tut mir sehr leid.« Er schwieg einige Sekunden lang. »Ich werde nie vergessen, wie ich damals Windpocken hatte und er mir dieses Modellflugzeug zum Selberbauen brachte. Den ganzen Tag hat er mir geholfen, die winzigen Balsaholzteile zusammenzukleben.«
    »Wenn ich mich recht erinnere, zerschellte es tags darauf am Fenster, nachdem wir dich ausdrücklich davor gewarnt hatten, es im Haus fliegen zu lassen.«
    »Ja, und dann hast du es als Anzündholz für den Küchenherd benutzt.«
    »Es war völlig hinüber. Warum hätte man das Holz verschwenden sollen?« Beide erinnerten sich sehr gut an die Geschichte, die immer wieder bei Familienfeiern erzählt wurde. Manchmal als Witz, so dass alle lachten, manchmal aber auch als
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