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Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)

Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)

Titel: Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Autoren: Chris Pavone
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AUFTAKT
    Heute, 10:52 Uhr, Paris
    »Kate?«
    Wie gebannt blickt Kate in das Schaufenster, in dem sich Kissen, Tischdecken und Vorhangstoffe in verschiedensten Schattierungen von Taupe, Schokobraun und Moosgrün türmen – eine Farbpalette, die die zarten Pastelltöne der letzten Woche ersetzt hat. Saisonwechsel. Einfach so.
    Sie wendet sich vom Fenster ab und der Frau zu, die neben ihr auf dem schmalen Bürgersteig der Rue Jacob steht. Wer ist diese Frau?
    »O mein Gott, Kate! Bist du das?« Die Stimme kommt ihr bekannt vor. Aber das reicht nicht.
    Inzwischen hat Kate vergessen, wonach sie halbherzig gesucht hat. Es war irgendetwas aus Stoff. Vorhänge für die Gästetoilette? Irgendetwas Albernes, Unnützes.
    Sie zieht den Gürtel ihres Regenmantels enger, eine Geste des Selbstschutzes. Vorhin, auf dem Weg zur Vorschule, hat es geregnet. Nebel stieg von der Seine auf, und die Absätze ihrer Lederstiefel hallten laut auf dem Kopfsteinpflaster. In der Tasche ihres dünnen Regenmantels steckt eine zusammengefaltete Herald Tribune . Das heutige Kreuzworträtsel hat sie bereits im Café neben der Schule gelöst, wo sie meistens gemeinsam mit den anderen ausländischen Müttern frühstückt.
    Zu denen gehört diese Frau jedenfalls nicht.
    Diese Frau trägt eine Sonnenbrille, die ihre Stirn, den größten Teil ihrer Wangen und die gesamte Augenpartie verdeckt, sodass Kate unmöglich erkennen kann, wer sich hinter all dem schwarzen Kunststoff und den goldenen Logos verbirgt. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar ist streng aus dem Gesicht gekämmt und wird von einem Seidenschal gehalten. Sie ist groß und attraktiv, jedoch mit üppigen Hüften und Brüsten. Sinnlich. Sie ist auf leichte, natürliche Weise gebräunt, als verbringe sie viel Zeit im Freien. Tennis vielleicht oder Gartenarbeit. Jedenfalls hat ihr Teint nichts von dieser tiefdunklen Dörrapfelbräune, die so viele stundenlang im UV-Licht der Solariensärge schmorende Französinnen schätzen.
    Ihr Outfit erinnert an eine Reiterin. Kate erkennt auf Anhieb das karierte Sakko aus dem Schaufenster dieser neuen, obszön teuren Boutique ganz in der Nähe wieder, in deren Räumen zuvor eine beliebte Buchhandlung ansässig war – ein Wechsel, der lautstarken Einheimischen zufolge den Niedergang des Faubourg St. Germain einleitet, das sie kennen und lieben. Doch die Liebe zu dieser Buchhandlung war eher abstrakter Natur gewesen, denn sie war meistens leer gewesen, während in der Boutique oft Hochbetrieb herrschte. Nicht nur texanische Hausfrauen, japanische Geschäftsleute und russische Schlampen fallen heuschreckenartig dort ein und bezahlen ihre Blusen, Schals und Handtaschen in bar – mit brandneuen Scheinen, frisch aus der Geldwäschemaschine –, sondern auch die reichen Pariserinnen. Arme gibt es in dieser Gegend nicht.
    Aber diese Frau? Sie lächelt und entblößt dabei eine Reihe perfekter, strahlend weißer Zähne. Auch das Lächeln kommt Kate bekannt vor, trotzdem muss sie ihre Augen sehen, um ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
    In Südostasien werden Autos gebaut, die weniger kosten, als diese Frau für ihre Karojacke hingeblättert hat. Kates Kleidungsstil ist ebenfalls erlesen, im Gegensatz zu dem dieser Frau jedoch klassisch-zeitlos, wie Frauen ihres Typs es vorziehen.
    Diese Frau ist Amerikanerin, spricht jedoch ohne einen bestimmten Akzent. Sie könnte von überall her stammen.
    »Ich bin’s«, sagt sie und nimmt endlich ihre Sonnenbrille ab.
    Instinktiv weicht Kate einen Schritt zurück und spürt den verrußten dunkelgrauen Steinsockel des Hauses an ihren Hosenbeinen, während die Metallbügel ihrer Handtasche klirrend gegen die Schaufensterscheibe schlagen.
    Ihr fällt die Kinnlade herunter, doch aus ihrem Mund dringt kein Laut.
    Ihr erster Gedanke gilt den Kindern, Panik brandet in ihr auf – ein typischer Mutterinstinkt. Das war ein Punkt, über den Dexter sich vor der Geburt ihrer Kinder nie ernsthaft Gedanken gemacht hatte: diese fürchterliche, tiefsitzende Angst, die einen nicht mehr loslässt, sobald Kinder im Spiel sind.
    Diese Frau hat sich hinter ihrer Sonnenbrille versteckt, hat sich eine neue Haarfarbe und einen anderen Schnitt zugelegt, und ihr Teint ist dunkler als früher. Außerdem hat sie ein paar Kilo zugelegt. Sie sieht anders aus. Trotzdem kann Kate nur staunen, wieso sie sie nicht gleich erkannt hat, schon bei den ersten Worten. Aber Kate weiß, warum. Sie wollte sie nicht wiedererkennen.
    »O mein Gott«,
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