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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly
Autoren: Peter Heinisch
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also nach Pienza, aber das dortige Angebot war kaum vertrauenerweckender. In Montepulciano war es etwas besser, aber, nach Marcos Urteil, auch noch nicht überzeugend. Wenn sie schon in Montepulciano seien, meinte er, könnten sie auch nach Chianciano weiterfahren. In Chianciano Terme, das als Kurort einen gewissen Ruf genoss, müsse es, meinte er, seriösere Optiker geben.
    Damit hatte er Recht. Jedenfalls gab es dort zwei Optiker, die Brillen mit dem entsprechenden Schutzfaktor gehabt hätten. Nur waren die leider restlos ausverkauft. Man bot Marco und Julia an, solche Brillen zu bestellen. Aber die wären erst nach der Sonnenfinsternis geliefert worden.
    Marco seufzte und kaufte Brillen mit einem geringeren, seines Erachtens zu geringen Schutzfaktor. Er hoffte immer noch, anderswo die richtigen zu finden. Er kam sogar auf die Idee, nach Milano zu fahren, um die Brillen, die er im Koffer hatte, zu holen. Aber als er an Julias Miene sah, was sie davon hielt, kam er rasch wieder davon ab.
    Es sei doch lächerlich, sagte Julia, wegen dieser blöden Sonnenfinsternis so einen Aufwand zu treiben. Was gebe es, fragte sie, da groß zu sehen? Der Mond schiebe sich für etwas mehr als zwei Minuten vor die Sonne, oder genauer, er werfe seinen Schlagschatten auf die Erde.
E allora?
Na und? Es werde finster, und dann werde es wieder hell.
5
    Doch dann kam der Vormittag der Verfinsterung. Sie saßen auf der Mauerterrasse und warteten. Marco hatte beschlossen, dass sie das Phänomen nicht unmittelbar beobachten sollten, sondern indirekt. Und zwar durch eine simple Camera obscura, zu der es sowohl in der
Unità
als auch in der
Repubblica
und im
Corriere della Sera
eine regelrechte Bastelanleitung gab.
    Es genüge, stand da zu lesen, eine gewöhnliche Schuhschachtel herzunehmen, den Deckel wegzulegen und ein Loch von zwei Millimeter Durchmesser in die Mitte einer der beiden Schmalseiten zu bohren. Richte man diese Öffnung gegen die Sonne, so würde ein leuchtender Kreis auf der gegenüberliegenden Seite der Schachtel erscheinen. Die Sonne als kleine, aber feine Projektion. Sobald nun der Mond die Sonne zu verdunkeln beginne, würde der leuchtende Kreis im Inneren der Schachtel immer schmäler und schmäler werden, bis am Ende nur noch eine schmale Sichel übrig bleibe.
    Auf diese Weise könne man die Sonnenfinsternis in allen ihren Phasen beobachten, ohne sein Augenlicht zu gefährden. Perfekt, sagte Marco. Absurd, dachte Julia. Wenn sie recht verstanden hatte, würden sie ab elf Uhr halb oder ganz abgewandt von der Sonne sitzen und in die Schachtel starren. Und nachher konnten sie sagen, sie hätten ein Jahrhundertereignis beobachtet.
    Wenigstens hatten sie eine Flasche Prosecco und zwei Gläser dabei. Es war erst halb elf. Vorläufig durfte man noch unbefangen in die Gegend schauen. Und der Vormittag war strahlend schön. Man sah weit und klar über das Hügelland, Montalcino auf seinem Berg wirkte zum Greifen nah.
    Um Viertel vor elf allerdings veränderten sich die Lichtverhältnisse. Und nicht nur die: Bis dahin hatte ein milder Wind geweht. Die Zweige der Bäume im Park und jenseits der Mauer hatten sich sanft bewegt. Nun jedoch wirkte die Luft auf einmal, als wäre sie mitten in der Bewegung stehengeblieben.
    Partikel von Sand oder Asche schienen in dieser Luft zu schweben. Alles nahm einen schwefelgelblichen Ton an. Montalcino sah nicht mehr aus wie eine von Menschen bewohnte Stadt, sondern wie ein Termitenbau. Das Hügelland, das sie noch bis vor wenigen Minuten bis an sehr ferne, blaue Bergkettenränder überblickt hatten, war von einem Moment auf den anderen nichts mehr als eine vage Ahnung.
    Die Schwalben, die gerade noch ihre wilden Runden gedreht hatten, schienen mitten im Flug an Jagd- und Lebenslust zu verlieren. Und binnen Sekunden waren sie dann verschwunden. Kein Blatt rührte sich. Kein Vogel zwitscherte mehr. Nur sehr vereinzelt klang aus den Hecken ein banges Piepsen.
    Auch die Stimmen von der Piazza, auf der sich halb San Vito versammelt hatte, um durch allerlei improvisierte und nach Marcos Ansicht sicher völlig unzureichende Filter das Verschwinden der Sonne im Schlagschatten des Mondes zu beobachten, auch diese Stimmen, bis vor kurzem ein aufgeregtes, durch den Schalltrichter des Platzes verstärktes Summen, waren inzwischen verstummt. Alles verharrte und erstarrte in banger Erwartung. Und dann ein kühler Windstoß, und nun ergoss sich aus dem bisher vorherrschenden Gelb ein bleigraues Licht. Und dieses
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