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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly
Autoren: Peter Heinisch
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daraus ergibt, dass man in einer nicht perfekt beherrschten Sprache nach Wörtern sucht, ihr Französisch sei ein bisschen eingeschlafen, aber durch den Umgang mit Marco werde es wieder erweckt.
    Der alte Mann am Fenster war also für sie zuerst einmal
Le vieux Hemingway
. Tatsächlich sah er Hemingway irgendwie ähnlich. Der weiße Bart, die hohe Stirn, die, soweit man das von unten, von der Piazza aus, sehen konnte, kräftige, aber schon etwas korpulente Statur.
    Ein neuer Gast?, fragte Marco den
padrone
, der wie meist um diese Zeit auf einem Klappsessel vor dem Portal saß. – Der da oben? Ach was! Der ist doch schon lang da.
    Seltsam, tatsächlich, dass sie ihn nicht eher bemerkt hatten. Wohnte er doch, wie ihnen nun bewusst wurde, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Das war ihnen jetzt beinahe ein bisschen peinlich. Aber Mortimer war ein dezenter Nachbar.
    Signore Mortimer.
Un americano
. Stammgast in diesem Hotel seit vielen Jahren. Die einzigen Gäste waren sie also nicht. Doch so viel ist wahr, dass das
Albergo Fantini
, dessen Name auf der abgeblätterten Fassade kaum mehr zu lesen war, nicht zu den besuchtesten gehörte – der Ort, in dem es ihnen von Tag zu Tag besser gefiel, war vom Tourismus noch so gut wie unentdeckt.
    Ein Ort in der Südtoskana, mit teilweise noch sehr gut erhaltener Stadtmauer. Obwohl die Deutschen vor ihrem Rückzug einiges gesprengt hatten. Die Porta Romana im Südosten zum Beispiel. Und den Turm im oberen Teil des Gartens, der ausgesehen hat wie die Türme auf den Bildern des Malers de Chirico.
    Anderswo, etwa in San Gimignano, gab es mehr von dieser Sorte. Hier hatte es nur diesen einen gegeben. Kein besonders schönes Exemplar, aber immerhin fast vierzig Meter hoch. Ein Turm ist ein Turm. Aber dann war da nur mehr ein Trümmerhaufen.
    Im Süden und Osten ist die Parkmauer identisch mit der Stadtmauer. Im unteren Teil des Gartens ist ein schmales Haus in die Mauer eingepasst. Das Dach gedeckt mit blassroten, von der Zeit etwas grau gewordenen Ziegeln. So sieht man es auf den Fotos, die sie heute vom Hubschrauber aus schießen, so wird es auch Mortimer bei seinem Absprung gesehen haben.
    Aber nur kurz, in den paar Augenblicken zwischen Absprung und Landung. Bei solchen Einsätzen geht alles viel schneller, als man glaubt. Kaum hat sich der Fallschirm geöffnet, bist du auch schon unten. Und dann hast du andere Sorgen, als die Geometrie der Gartenanlage zu bewundern – seitlich abrollen, Fallschirm einziehen, möglichst rasch Deckung suchen.
    Und was bietet sich dazu besser an als das Gewölbe unter dem Haus in der Mauer? Das Gewölbe, auf dessen immer wieder vergebens geweißte Wände die
ragazzi
von heute, respekt- und pietätlos, wie sie sind, ihre Zoten schreiben. Just unter dem Fenster, aus dem Miss Molly geschaut hat, den Vorhang bloß einen Spaltbreit beiseite ziehend oder schiebend, wird Mortimer Deckung suchen. Und nur bei dem Krach, den der Absturz des Flugzeugs verursacht hat, da draußen irgendwo in den
crete
, nur bei der Detonation hat sie kurz die Augen geschlossen.
    Von dem Punkt, an dem Mortimer gelandet ist, bis zu diesem Gewölbe sind es vielleicht zwanzig Meter. Für einen gut trainierten Soldaten kaum mehr als zwölf Schritte, das heißt eher Sprünge. Und das muss schnell gehen, verdammt schnell, das dauert nicht mehr als ein paar Sekunden. Danach ist der soeben Aufgetauchte fürs Erste schon wieder aus Miss Mollys Blickfeld verschwunden.
    Miss Molly ist also am Fenster gestanden, obwohl sie eigentlich im Luftschutzkeller hätte sein sollen, denn gewiss haben die Sirenen geheult. Aber um in den großen Keller unter der Casa del Popolo zu kommen, hätte sie nicht nur zwei Treppen aus dem Obergeschoß des Mauerhauses hinunterlaufen müssen, sondern danach noch schätzungsweise hundert Meter durch den Park bis zum Tor. Und das Tor, das immer verschlossen ist – denn zu diesem Zeitpunkt ist der
giardino
noch kein öffentlicher Garten –, das Tor mit dem schweren Schloss hätte sie aufsperren müssen. Und dann quer über die Piazza laufen – aber das hat sie, seit es in diesem Städtchen Bombenalarm gibt, nur einmal getan und danach nie wieder.
    Während sie über den Platz gelaufen ist, hat sie Sünden abgebüßt, die sie nie begangen hat. Und im Keller der Casa del Popolo hat sie erst recht nichts als Angst ausgestanden. Erst Platzangst, dann Raumangst. Traumangst. Denn von so etwas hat sie vielleicht schon als Kind geträumt. Träume, aus denen sie stets
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