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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly
Autoren: Peter Heinisch
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Kilometer kein offenes Lokal.
    Keine Pizzeria, keine Bar, kein
Alimentari
-Laden. Nicht einmal eine Imbissstube an einer Tankstelle. Und je weiter die beiden nach Süden kamen, desto häufiger waren die Hügel links und rechts der Straße schon abgemäht. Wie Dünen sahen die aus. Sie kamen sich vor wie in der Wüste.
    Doch dann erschien rechter Hand auf einer kleinen Anhöhe die Oase. Von der Straße aus sah man vorerst den Kirchturm und ein Stück Mauer. Man sah auch die mit viel Sinn für ästhetische Wirkung gesetzten Zypressen. San Vito Nuovo mit seinen an Lego-Spielzeug erinnernden Reihenhäusern gab es noch nicht.
    Bei diesem Anblick schöpften sie wieder Hoffnung. Vielleicht gab es ja da drin eine kleine Osteria. Es sah danach aus, es machte auf sie diesen Eindruck. So fuhren sie also von der Via Cassia ab und hielten an der Porta Pellegrini.
    In den späteren Jahren, in denen Julia und Marco
noch immer
und dann (nach einer mehrjährigen Abstinenz, die sie beide, jeder für sich, nur schwer ertragen hatten)
wieder
nach San Vito kamen, versuchten sie immer aufs Neue, sich diesen ersten Tag, an dem sie hier eingetroffen waren, zu vergegenwärtigen. Von der ersten Stunde an, von den ersten Schritten, die sie in den Ort hineingingen. Sie kamen also durch die Porta Pellegrini, das nördliche Stadttor. So benannt, weil San Vito nicht nur an der Via Cassia, sondern auch an der Via Francigena, der mittelalterlichen Pilgerstraße, lag, und weil die von Norden kommenden Pilger durch dieses Tor die Stadt betreten hatten.
    Sie tauchten kurz durch die Kühle des Stadttors, die Straße, auf der sie auf der anderen Seite herauskamen, zitterte vor Hitze. Nur ein schmaler Streifen Schatten fiel auf die alten Pflastersteine. Kein Mensch war zu sehen, nur ein paar blinzelnde Katzen, sagte Julia. War nicht auch ein Hund dabei? Also gut, ein paar blinzelnde Katzen und ein auf einem Fußabstreifer lungernder Hund.
    Eventuell auch eine Ratte im Rinnsal?
    Nein, sagte Julia, das war erst am Abend.
    Aber die Tauben natürlich, die zwischen den Sandsteinfiguren der alten Kirche saßen. Und im Schlaf oder im Traum gurrten. Falls Tauben träumen.
    Aber natürlich träumen Tauben, sagte Marco.
    Und was träumen sie deiner Ansicht nach?
    Flugträume, sagte Marco. Wunderschöne Flugträume. Gerade, wenn sie schon alt und hässlich sind und kaum mehr fliegen können.
    Hatte er das schon damals gesagt, oder sagte er es erst Jahre später? Die Erinnerung, sagte Marco, ist eine immer wieder aufgenommene Montage. Wie ein Film, den man immer aufs Neue schneidet. Manche Szenen nimmt man vielleicht heraus, andere dreht man nach und fügt sie hinzu.
    Sie waren also zuerst bis zu der Kirche gekommen, der in den ältesten Bauteilen tausend Jahre alten Collegiata. Und Marco hatte die
Minolta
gezückt. Zuerst einmal angesichts der zwei Figuren von Pisano. Oder aus der Schule des Pisano – die Kunsthistoriker waren diesbezüglich vorsichtig. Wie dem auch sei, sie flankierten das Südportal der Kirche. Zwar hatte die Zeit ihre Gesichter verwischt und die Falten ihrer Gewänder. Aber die Anmut ihrer Haltung wurde dadurch vielleicht noch deutlicher.
Che grazia
, sagte Marco,
che bellezza!
    Das hätte er gern fotografisch festgehalten. Mit oder ohne träumende Tauben im Bild. Aber das Licht war um diese Stunde noch schlecht. Absolut knallig. Es gab fast keine Kontraste.
    Das betraf leider auch das Westportal. Mit seinen kaum weniger interessanten Motiven. Zwei vom Zahn der Zeit beharrlich abgenagte Löwen, die nichtsdestoweniger immer noch die verknoteten Säulen trugen, die man, auf ihre steinerne Geduld vertrauend, auf ihre Rücken gestellt hatte. Und die Relieffiguren über dem Architrav – einander lasziv bezüngelnde Ungeheuer, die bei aller beabsichtigten Grausigkeit etwas Witziges hatten, zumindest aus der Gegenwart betrachtet: ein romanischer Comicstrip.
    Aber die Sonne war einfach ein Desaster. Jedenfalls vom fotografischen Standpunkt aus. Es nützte nichts, das wurde jetzt einfach nichts Gutes. Vielleicht später, sagte Marco, wenn wir uns gestärkt haben.
    Denn das hatten sie ja nicht aus dem Sinn verloren. Dass sie etwas essen und trinken wollten. Ganz im Gegenteil. Nur wo, war die Frage. Womöglich wurde die Nachmittagsruhe in diesem Städtchen noch strenger eingehalten als draußen.
    Alles schlief. Oder schien zumindest zu schlafen. Fensterläden geschlossen, Rollläden dicht. Auch in der Via Dante – und die sah immerhin aus wie die
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