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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly
Autoren: Peter Heinisch
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Licht war eigentlich Schatten, dieses Licht war beinahe schon Finsternis.
    Und – ja, es ist wahr – da wurde Julia einen Moment lang unheimlich zumute. Sie sah Marcos Gesicht über diese dumme Schuhschachtel gebeugt, das Relief der Fältchen, von denen er inzwischen nicht wenige hatte, bei dieser Beleuchtung völlig verflacht. Und sie erschrak: Wahrscheinlich sah sie jetzt auch so aus. Und wahrscheinlich sahen jetzt alle so aus, die dort unten auf der Piazza standen, und wenn sie einander in diesem Augenblick ansahen, erschraken sie vielleicht ebenso.
    Und was war das?
Non è la fine del mondo
, sagt man auf Italienisch, wenn man
halb so schlimm
meint, diese Wendung war ihr inzwischen geläufig. Das ist nicht das Ende der Welt – man führt diesen Satz bei vielen kleinen Gelegenheiten und Ungelegenheiten des täglichen Lebens im Munde. Aber das hier, das jetzt, das war etwas anderes, das war deutlich zu spüren. Und was, dachte Julia, wenn es doch das Ende der Welt wäre?
    Was, wenn ihre Klientin und Nostradamus und wer weiß welche Untergangsprophetinnen und -propheten Recht hätten? Bis vor kurzem hatte sie es lächerlich gefunden, so etwas zu denken, aber jetzt ... Sie versuchte die Bangigkeit, die in der Luft lag und die natürlich auch sie nicht einfach ignorieren konnte, zu ironisieren. Es wäre schon blöd, sagte sie zu Marco, wenn ausgerechnet jetzt die Welt unterginge.
    Ja, sagte Marco.
Tanto è vero
. Auch seine Stimme klang eigenartig flach.
    Was, wenn die Sonne in diesem Schatten verschwände und nicht mehr auftauchte? Man kann doch nicht einfach so dasitzen und abwarten, sagte Julia. Man müsste was tun ...
    Und in diesem Moment begannen die Glocken im Campanile elf Uhr zu läuten.
    Wolltest du nicht mit mir schlafen?, fragte sie.
    Über die Frage gerade in diesem Augenblick wirkte er dann doch ein wenig überrascht. Das sah ihm Julia an, trotz der fahlen Beleuchtung.
    Fare l

amore con te?,
sagte er.

.
Naturalmente
.
    Julia nickte. Na schön, sagte sie,
va bene
. Wenn du noch immer willst ..., jetzt wär mir danach.
    Ora?
Jetzt?
    Ja, sagte sie und nahm ihn an der Hand.
Quando se non ora?
Wann, wenn nicht jetzt? Bevor es womöglich zu spät ist.
6
    Die Sonnenfinsternis dauerte zwei Minuten und dreizehn Sekunden. Ihre Umarmung dauerte deutlich länger. Als sie danach wieder aufstanden und auf die Mauerkrone hinaustraten, stand die Sonne am Himmel und strahlte wie eh und je. Siehst du, sagte Marco, wir haben sie wieder herbeigevögelt.
    FINE

Über den Autor
    Peter Henisch
wurde 1943 in Wien geboren, er studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Psychologie. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift Wespennest; seit 1971 arbeitet er als freier Schriftsteller und lebt in Wien. Er veröffentlichte u. a.:
Die kleine Figur meines Vaters
(1975),
Pepi Prohaska Prophet
(1986),
Steins Paranoia
(1988),
Morrisons Versteck
(1991),
Vom Wunsch, Indianer zu werden
(1994),
Schwarzer Peter
(2000) und
Großes Finale für Novak
(2011). Zahlreiche Preise und Auszeichnungen; mit seinen Romanen
Die schwangere Madonna
(2005) und
Eine sehr kleine Frau
(Deuticke, 2007) war er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. 2009 ist
Der verirrte Messias
im Deuticke Verlag erschienen.
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