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Morenga

Morenga

Titel: Morenga
Autoren: Uwe Timm
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auch an andere, größere Konzerte zu denken war. Voraussetzung bei einer Bewerbung war, daß der Betreffende ein bestimmtes Instrument spielen konnte, zum Beispiel ein Barockfagott oder ein Naturhorn in Es, damit man auch Telemanns ›Ouverture avec la suite, à sept instruments‹ spielen konnte.

    Der Bahnhof von Waldau kam, eine Ruine. An der hellbraunen Fassade konnte man über den leeren Fenstern verrußte Brandspuren sehen. Unmittelbar neben der Ruine steckten drei Holzkreuze im Boden.

    Über seine Pläne hatte Gottschalk mit niemandem gesprochen, und erst recht nicht über das, was man als Träumerei hätte bezeichnen können. Gottschalk hatte Wenstrup sehr wohl verstanden, als dieser Moltke zitierte: Die preußische Armee hat keinen Platz für Juden und Träumer. Dabei war in Gottschalks Auftreten durchaus nichts Vergrübeltes, Kauziges. Seine Umgangsformen waren, wie Rittmeister von Tresckow in einer Beurteilung schrieb: taktvoll, gewandt und sehr höflich.

    Am quälendsten war der Fischgeruch. Trotz Kernseife und reichlichem Bürsten blieb er an den Händen. Der kleine Gottschalk mußte die Salzheringe aus den Fäßchen, in denen sie von den Heringsloggern zum väterlichen Geschäft gerollt wurden, in ein großes Faß umpacken. Es stand, mit einem Deckel verschlossen, am Eingang. Die anderen Waren sollten nicht den Fischgeruch annehmen. Das Umpacken der Heringe war Gottschalks Aufgabe, auch dann noch, als er zum Gymnasium ging.
    Die Hände hielt er in den Hosentaschen verborgen. Hände auf den Tisch, befahl der Lehrer. Heringsbändiger, hänselten ihn die Mitschüler.
    Manchmal, nachts, heulte er, wenn er wußte, daß am nächsten Morgen wieder die Fässer kamen, noch vor Schulbeginn.

    Was von Tresckow aufgefallen war: Gottschalk hatte während der dreiwöchigen Überfahrt eine auffallende Geste Wenstrups angenommen. Und zwar hatte Wenstrup die Angewohnheit, immer dann, wenn er Fragen stellte oder Tatbestände kritisierte, das Gesicht zusammenzuziehen und sich mit dem Zeigefinger in den Kragen zu fahren, als müsse er sich Luft verschaffen. Eines Tages begann auch Gottschalk, mit dem Zeigefinger am Kragen zu zerren.

    Gottschalk war sich im übrigen durchaus bewußt, daß er bestimmte Sprechweisen, Betonungen, Gesten, womöglich auch mimische Eigenarten anderer Personen übernahm, gegen seinen Willen, denn er hielt das für ein Zeichen von Unreife, von Charakterschwäche. So hatte er auch eines Tages bemerkt, daß er wie Wenstrup mit dem Finger in den Kragen fuhr und, was noch sonderbarer war, daß er bei dieser Geste sogleich auf kritische Gedanken kam, dieses Bohren schien wie eine Verpflichtung zu sein, etwas in Frage zu stellen. Ein Vorgang, über den Gottschalk sich wunderte, der aber dadurch dennoch nicht außer Kraft gesetzt wurde.
    Gottschalk hatte, obwohl schon vierunddreißig Jahre alt, noch immer keine festgelegten körperlichen Ausdrucksformen, vom Gang einmal abgesehen, einem zügig schnellen Schritt, den er schon vor seiner Militärzeit hatte und der in keiner Weise dem lähmenden Latschen seines Vaters ähnelte, das ihm schon als Junge, auf den sonntäglichen Spaziergängen durch Glückstadt, unerträglich gewesen war.

    Tagebucheintragung Gottschalks vom XI. 10. 04
    (abends, auf dem Transportzug nach Windhuk)
    Einen Augenblick lang rannte ein Rudel aufgescheuchter Antilopen neben dem Zug, verschwand dann im Gebüsch.
    Tr. sagt, das gesamte Stammesgebiet der Herero soll Kronland werden, d. h. für die Besiedlung freigegeben. Angeblich das beste Land in Südwest, gute Weiden und verhältnismäßig viel Wasser. Ein schöner Gedanke, daß es in dieser Wildnis einmal Augen geben wird, die Goethe lesen, und Ohren, die Mozart hören. Die Flüsse heißen Rivier.

    23. 10. 04 (Windhuk)
    Windhuk, die Hauptstadt der Kolonie: Eine Kaserne mit einem kleinen Dorf. General Trotha zu Pferde. Stabsoffiziere der Etappenstäbe. Die Festung auf der Kuppe sollen die Schutztruppler unter Hauptmann von Francois mit den bloßen Händen gemörtelt haben. Die Eingeborenen, schwarze (Herero) und braune (Hottentotten), auch viele Mulatten, Bastards genannt, sehen aus wie kleine abgerissene Europäer, aber schwarz.
    Am nächsten Tag ging Gottschalk zur Kommandantur. Unterhalb des Forts, in der Nähe der Mannschaftsunterkünfte, standen geschminkte Hottentottenfrauen, die dem vorbeigehenden Gottschalk Zeichen machten: Mit dem Zeigefinger in die geschlossene Hand fuhren oder die Zungenspitze züngelnd aus dem Mund
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