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Shanera (German Edition)

Shanera (German Edition)

Titel: Shanera (German Edition)
Autoren: Thilo Schön
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Tag 1
    Shanera schlich auf Zehenspitzen zur Türöffnung der Gemeinschaftskuppel. Sie spähte hinaus. Über den Rand des schmalen Weges blickte sie in den vom Morgennebel verhüllten, dunklen Abgrund. Ein Stück unter ihr huschte ein Schemen vorbei. Wahrscheinlich war es ein Klippentaucher, der häufigste Großvogel in dieser Gegend.
    Die Luft war kühl und frisch und roch nach Morgentau und Fels. Der Nebel dämpfte alle Geräusche. Gelegentlich wurden bröckelnde Steinchen von Tieren oder dem Wind auf ihren langen Weg in die Tiefe befördert. Sonst hörte sie nur die leisen Schlafgeräusche der Dorfbewohnerinnen, die mit ihr die Gemeinschaftshütte teilten.
    Endlich war es soweit! Vorsichtig ging Shanera zurück zu ihrem Schlafplatz, um ihre Ausrüstung und die wenigen persönlichen Dinge zusammenzupacken. Da waren ein Wasserschlauch, Kurzbogen und Pfeile, ihr Messer, eine Auswahl an Kräutern, Lederriemen, Feuersteine und ihr kleines Kochgeschirr. Dazu verstaute sie ihre Decke, Tücher und Kleidungsstücke, den Lederköcher mit ihren Schriftrollen, Federn und Tinte.
    Sie zögerte kurz bei ein paar bunten geflochtenen Bändern, die Geschenke gewesen waren, steckte sie dann aber doch ein. Zuletzt folgte ein kleiner geschnitzter Vogel, der sie seit ihrer frühen Kindheit begleitet hatte.
    Ihr Bündel verschnürt auf dem Rücken, nahm sie als letztes ihre persönliche Brosche, drei in einem verzierten Bronzerahmen eingefasste türkisfarbige Steine. Der Empfang der Brosche hatte vor vier Sonnenzyklen ihren offiziellen Eintritt ins Erwachsenenleben bedeutet. Nachdem sie ihren Umhang damit zusammengeheftet hatte, ging sie leise zur Tür.
    Sie warf nur einen flüchtigen Blick zurück. Mit keiner ihrer Mitbewohnerinnen verband sie eine echte Freundschaft, obwohl sie mit den meisten einigermaßen ausgekommen war. Die würden schon sehen, wen sie als neue Mitbewohnerin zugeteilt bekamen. Da gab es sicher unangenehmere Leute als sie. Hoffte sie jedenfalls.
    Noch einmal horchte sie nach verdächtigen Geräuschen. Alles schien ruhig. Doch gerade als sie die Kuppel verlassen wollte, näherten sich knirschende Schritte. Der Wächter auf seinem Rundgang! Sie duckte sich in den Schatten des Eingangs zurück. Die Schritte wurden lauter und Shanera hielt den Atem an.
    Doch sie kamen nicht bis zur Hütte. Nach einigen bangen Momenten entfernten sie sich wieder. Offenbar hatte der Wächter nichts bemerkt. Nachdem sie noch kurze Zeit abgewartet hatte, trat sie auf den grauen und kalten Pfad vor der Kuppel hinaus.
    Leichtfüßig eilte sie den engen Steig aufwärts, der nach einigen Schritten in den unteren Hauptweg der Siedlung mündete. Bunte Bänder und Fahnen dienten als Wegweiser. Sie waren im fahlen Licht kaum auszumachen, doch sie benötigte natürlich auch keine solchen Hilfen. Sie wandte sich nach links, weg vom Zentrum des Dorfes.
    Die dunkelgraue Morgendämmerung ließ nur grobe Umrisse erkennen. Nebelschwaden zogen über die Steine und umflossen die größeren Felsen. Der sonst allgegenwärtige Wind war beinahe zur Ruhe gekommen. Die kuppelförmigen Bauten der Siedlung ruhten so friedlich, wie es ihre Position nahe des oberen Endes der Großen Wand zuließ.
    Große Wand – dieser Name war eine massive Untertreibung für eine Landschaftsformation, die so ausgeprägt war, dass sie die Oberfläche des Planeten beinahe allein definierte. Vielleicht gab es aber auch gar keine angemessene Bezeichnung für eine mehrere tausend Schritt hohe Felsenklippe, steil abfallend, oft beinahe senkrecht, die das gesamte Nordplateau dieser Welt vom tiefer liegenden, tropischen Zentralwald abtrennte.
    Das Dorf mit seinen Kuppelbauten klammerte sich wie eine Gruppe von Vogelnestern an den steilen Fels, der sich endlos nach Osten und Westen und beinahe ebenso weit in die Tiefe erstreckte. Selbst sein oberes Ende war noch gut einen Tag Fußmarsch auf steilen Pfaden entfernt.
    Shanera war in den Schriften der Alten schon auf viele Namen für diese gigantische Schöpfung der Äonen gestoßen. Von Zela, ihrer Freundin unter den Tempelanwärterinnen, wusste sie, dass es auch in den religiösen Schriften zahlreiche Begriffe und Symbolismen für das ungeheure Felsenband gab, das diese Welt umrundete. Doch allgemein benutzt wurde nur diese so harmlos erscheinende Umschreibung: Die Große Wand.
    Sie lief vorbei an einigen Wohn- und Lagerkuppeln, die sich auf Felsvorsprüngen und unter Überhängen duckten. Überall hingen die jetzt dunklen Wimpel und
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