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Totgesagt

Totgesagt

Titel: Totgesagt
Autoren: T Weaver
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    Manchmal, kurz vor dem Ende, weckte sie mich, indem sie an einem Zipfel meines Hemdes zog. Dann bewegten sich ihre Augen wie Murmeln in einem Glas, und ihre Stimme flehte mich an, sie an die Luft zu ziehen. Ich habe dieses Gefühl immer geliebt, trotz ihres Leidens, weil es bedeutete, dass sie wieder einen Tag überlebt hatte.
    In jenen letzten Monaten war ihre Haut wie eine Leinwand, eng über ihre Knochen gespannt. Sie hatte auch sämtliche Haare verloren, mit Ausnahme einiger schwarzer Borsten über ihren Ohren. Doch das machte mir nie etwas aus; nichts von alledem. Hätte ich die Wahl gehabt, Derryn für einen Tag so bei mir zu haben, wie sie bei unserer ersten Begegnung gewesen war, oder für den Rest meines Lebens so, wie sie am Ende war, dann hätte ich sie genommen, wie sie am Ende war, ohne auch nur eine Sekunde mit Nachdenken zu vergeuden. Denn in den Augenblicken, in denen ich über ein Leben ohne sie nachdachte, bekam ich kaum Luft.
    Sie war zweiunddreißig, sieben Jahre jünger als ich, als sie die Geschwulst entdeckte. Vier Monate später brach sie in einem Supermarkt zusammen. Ich war achtzehn Jahre lang Zeitungsjournalist gewesen. Doch nachdem es ein zweites Mal in der U-Bahn passiert war, kündigte ich, arbeitete als freier Mitarbeiter weiter und weigerte mich, zu reisen. Es war keine schwierige Entscheidung. Ich wollte nicht am anderen Ende der Welt sein, wenn der dritte Anruf kam und
man mir mitteilte, dass sie diesmal gestürzt und dabei gestorben war.
    Am Tag, an dem ich die Zeitung verließ, führte Derryn mich zu einer Parzelle, die sie für sich auf einem Friedhof nicht weit von unserem Haus in West London ausgesucht hatte. Sie schaute auf ihr Grab, dann hoch zu mir, und lächelte. Daran erinnere ich mich genau. Ein Lächeln, das von so viel Schmerz und Angst durchtränkt war, dass ich den Impuls verspürte, irgendetwas kaputt zu schlagen. Ich wollte losprügeln, bis ich mich nur noch betäubt fühlte. Stattdessen nahm ich ihre Hand, legte sie in meine und versuchte, jede einzelne Sekunde wertzuschätzen, die uns noch an gemeinsamer Zeit blieb.
    Als deutlich wurde, dass die Chemotherapie nicht half, entschloss sie sich, die Behandlung abzubrechen. An dem Tag weinte ich, weinte ich richtig , wahrscheinlich zum ersten Mal, seit ich ein Kind gewesen war. Aber sie hatte – im Rückblick betrachtet – die richtige Entscheidung getroffen. Sie besaß immer noch einen Rest Würde. Ohne die Krankenhaustermine, von denen sie sich erst mal wieder erholen musste, wurde unser Leben sogar spontaner, und diese Art zu leben war für eine Weile aufregend. Sie las eine Menge und nähte, während ich am Haus arbeitete. Ich strich Wände und brachte Zimmer für Zimmer in Ordnung. Und einen Monat, nachdem sie die Chemo beendet hatte, steckte ich etwas Geld in ein Arbeitszimmer. Derryn hatte mich daran erinnert, dass ich einen Platz zum Arbeiten brauchte.
    Bloß dass die Arbeit nicht kam. Es gab ein paar Angebote – meist aus Sympathie -, doch meine Weigerung, zu reisen, machte mich zu einer Art letzter Option. Ich war zu genau der Sorte Freelancer geworden, gegen die ich immer eine Abneigung verspürt hatte. Ich wollte nicht zu solch einem Menschen werden, bekam aber nicht einmal mit, dass
es passierte. Doch am Ende eines jeden Tages wurde Derryn noch ein kleines bisschen wichtiger für mich, und ich fand es schwierig, das zu ignorieren.
    Dann, eines Tages, kam ich nach Hause und fand einen Brief auf dem Wohnzimmertisch. Er stammte von einer von Derryns Freundinnen. Sie war verzweifelt. Ihre Tochter war verschwunden, und die Polizei schien kein Interesse zu zeigen. Ihrer Meinung nach war ich die einzige Person, die ihr helfen konnte. Die Summe, die sie mir anbot, war enorm – mehr als ich eigentlich für einen Auftrag annehmen konnte, der sich wahrscheinlich in einigen Anrufen erschöpfen würde -, doch die ganze Angelegenheit bereitete mir ein ungutes Gefühl. Ich brauchte das Geld, und ich hatte Kontaktpersonen bei der Metropolitan Police, die ihre Tochter innerhalb weniger Tage aufspüren würden. Trotzdem war ich irgendwie unsicher, ob ich wollte, dass mein neues Leben an mein altes anknüpfte. Ich wusste nicht, ob ich irgendwas von diesem alten Leben tatsächlich zurückhaben wollte.
    Also sagte ich Nein. Als ich jedoch mit dem Brief in den Garten kam, wippte Derryn sanft auf ihrem Stuhl und empfing mich mit der Andeutung eines Lächelns.
    »Was ist so lustig?«
    »Du bist unsicher, ob du es tun
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