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Totgesagt

Totgesagt

Titel: Totgesagt
Autoren: T Weaver
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sollst.«
    »Ich bin sicher«, behauptete ich. »Ich bin sicher, dass ich es nicht tun sollte.«
    Sie nickte.
    »Glaubst du etwa, ich sollte es tun?«
    »Es passt perfekt zu dir.«
    »Was? Hinter vermissten Kindern herlaufen?«
    »Es passt perfekt «, wiederholte sie. »Pack die Chance beim Schopf, David.«
    Und so begann es.

    Ich schob den Zweifel, zusammen mit der Traurigkeit und dem Zorn, beiseite und fand das Mädchen drei Tage später in einem möblierten Zimmer in Walthamstow. Daraufhin kamen weitere Aufträge, mehr vermisste Jugendliche, und ich sah die Wellen einer Karriere, die ich hinter mir gelassen hatte, irgendwie zu mir zurückkehren. Fragen stellen, Leute anrufen, Ansatzpunkte entdecken. Den investigativen Teil des Journalismus hatte ich immer gemocht, die Drecksarbeit, das Buddeln, viel mehr als das eigentliche Schreiben. Und nach einer Weile begriff ich, dass dies auch der Grund war, warum ich mich nie außerhalb meines Metiers fühlte, wenn ich nach Ausreißern suchte: Das Vorgehen, der Verlauf der Jagd, war genau derselbe. Beim Aufspüren von Vermissten geht es vor allem darum, mit ganzem Herzen bei der Sache zu sein. Die Polizei hatte gar nicht die Zeit, jedes einzelne Kind, das von zu Hause ausriss, gründlich zu suchen – und manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie einfach nicht begriffen, was Jugendliche überhaupt dazu brachte, wegzulaufen. Den meisten ging es nicht einfach darum, etwas zu beweisen. Sie rissen aus, weil ihr Leben eine unkontrollierbare Wendung genommen hatte. Der einzige Weg, damit fertig zu werden, bestand in der Flucht. Was dann folgte, die Fallen, in die sie stolperten, lieferten die Gründe, aus denen sie später nicht mehr zurückkehren konnten.
    Doch trotz der Tatsache, dass täglich Hunderte von Kindern und Jugendlichen verschwanden, hatte ich wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ich jemals meinen Lebensunterhalt damit bestreiten würde, sie aufzuspüren. Es fühlte sich nie wie eine Arbeit an, nicht so, wie der Journalismus es getan hatte. Und trotzdem begann das Geld nach einer Weile zu fließen. Derryn überredete mich, ein Büro in der Nähe unseres Hauses anzumieten. Es war ein
Versuch, mich aus dem Haus zu treiben, aber auch – viel mehr noch, vermutlich – ein Versuch, mich davon zu überzeugen, aus dem, was ich tat, einen Beruf zu machen. Sie nannte es einen langfristigen Plan.
    Dann, zwei Monate später, starb sie.

2
    Als ich die Tür zu meinem Büro öffnete, war es kalt. Drinnen auf dem Fußboden lagen vier Umschläge. Ich warf die Post auf den Schreibtisch und öffnete die Rollos. Morgenlicht drang herein und brachte überall Fotos von Derryn zum Vorschein. Auf einem davon, meinem Lieblingsbild, waren wir in einer verlassenen Küstenstadt in Florida. Der Strand fiel zum Meer hin ab, und dicke Fliegen schienen den Sand wie eine Zellophanschicht zu überziehen. Im schwindenden Licht sah Derryn wunderschön aus. Ihre Augen strahlten blau und grün. Sommersprossen breiteten sich auf ihrer Nase und unter dem Bogen ihrer Wangenknochen aus. Ihr blondes Haar war von der Sonne gebleicht und die Haut an ihren Armen bis oben hin gebräunt.
    Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und zog das Foto zu mir heran.
    Neben ihr sah ich meine dunklen Augen, mein noch dunkleres Haar, die Stoppeln, die sich über mein Kinn und die Mundpartie ausbreiteten. Mit meinen einsachtundachtzig überragte ich sie deutlich. Auf dem Foto zog ich sie an mich heran, ihr Kopf ruhte auf den Muskeln an meinen Armen und meiner Brust, ihr Körper schmiegte sich an meinen.
    Von der körperlichen Erscheinung her bin ich noch derselbe. Ich trainiere, sooft es geht. Ich bin stolz auf mein
Äußeres. Ich will immer noch attraktiv sein. Aber vielleicht ist der Glanz einstweilen verblasst, und wie bei den Eltern der Menschen, die ich suche, auch das Leuchten in meinen Augen.
    Ich drehte mich mit meinem Stuhl um und schaute sie an.
    All die Menschen, die ich gesucht hatte.
    Ihre Gesichter füllten ein komplettes Korkbrett an der Wand hinter mir aus. Jeden Zentimeter. Jede Ecke. Hinter meinem Schreibtisch gab es keine Fotos von Derryn.
    Nur die Fotos der Vermissten.
    Nachdem ich das erste Mädchen aufgespürt hatte, hängte ihre Mutter Notizzettel auf. Zuerst in der Krankenhausstation, wo sie zusammen mit Derryn arbeitete, dann in einigen Schaufenstern, mit meinem Namen, meiner Telefonnummer und dem, was ich tat. Ich glaube, sie spürte Mitleid, wenn sie daran dachte, dass ich – früher oder
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