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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Autoren: Karl May
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ERSTES KAPITEL
    Bittere Armut
    Bei der Ankunft im Gerichtsgebäude, an welchem sich das Gefängnis befand, hatte der Staatsanwalt dem Wachtmeister die beiden Gefangenen mit einer leisen Weisung übergeben, und sich dann entfernt. Der Wachtmeister warf einen teilnehmenden Blick auf sie und sagte dann:
    „Kommen Sie mit mir. Ich habe den Befehl erhalten, Ihnen Ihre Lage möglichst zu erleichtern. Sie werden gute Zellen erhalten.“
    Engelchen wurde der Wachtmeisterin übergeben. Sie erhielt von derselben einen warmen Kaffee und die Beruhigung:
    „Seien Sie nicht bange, mein Kind! Es ist schon mancher gerechtfertigt von hier fortgegangen, den seine Mitmenschen zu früh verurteilt hatten. Weshalb hat man Sie denn eigentlich hierher gebracht?“
    Statt der Antwort liefen dem Mädchen die Tränen über die jetzt erbleichten Wangen.
    „Fassen und beruhigen Sie sich! Eigentlich darf ich solche Fragen gar nicht stellen; aber ich weiß, daß Mitteilung das Herz erleichtert. Wessen wird man Sie anklagen?“
    „Mein Gott, mein Gott! Ich glaube, des Mordversuchs!“
    „Des Mordversuchs? Ah! Das ist schlimm!“
    Sie betrachtete das Mädchen mit dem forschenden Blick einer Kennerin und sagte dann:
    „Aber das begreife ich nicht. Sind Sie denn –“
    Engelchen erhob den Blick fragend zu ihr, und dieser Blick war so rein und unschuldig, daß die Frau gleich fortfuhr:
    „Nein, das ist es nicht! Einen Geliebten haben Sie nicht!“
    „O doch!“
    „Wirklich? Hm! Und – und wohl auch – ein Kindchen?“
    Engelchens Gesicht überzog sich mit einer tiefen Glut.
    „Nein, nein!“ lautete die rasche Antwort.
    „Ich dachte, weil Sie von einem Mordversuch sprachen.“
    „Ein Kind morden? O Himmel, das könnte ich nicht!“
    „So haben Sie einen Erwachsenen töten wollen?“
    „Ich wollte nicht, es kam ohne Absicht; ich war so fürchterlich aufgeregt.“
    „Aber er ist nicht tot?“
    „Nein. Ein Schrotkorn hat ihn am Ohr gestreift.“
    „So haben Sie auf ihn geschossen? Wohl auf den Geliebten? Aus Eifersucht?“
    „Nein. Mein Geliebter ist mit hier – der Bursche, welcher mit mir gekommen ist. Der, auf welchen ich geschossen habe, wollte mich zwingen, seine Geliebte zu werden.“
    „Ach so! Nun verstehe und begreife ich alles! Sie Ärmste! Na, Sie können versichert sein, daß Ihre Strafe recht gelind ausfallen wird. Wer ist es denn, auf den Sie geschossen haben?“
    „Fritz Seidelmann.“
    „Der? Wegen dem auch die junge Beyer hier ist?“
    „Ja, derselbe. Sie ist unschuldig; alle Leute wissen und sagen das.“
    „Sie ist wohl eine Freundin von Ihnen?“
    „Ja. Wir sind miteinander konfirmiert.“
    „Schön! Da werde ich Sie beide zusammentun. Kommen Sie!“
    Sie führte sie nach einem verschlossenen Korridor, auf welchen zu beiden Seiten die Zellen mündeten. Sie öffnete eine derselben und sagte hinein:
    „Schlafen Sie?“
    Es wurde ihr keine Antwort.
    „Sie bekommen eine Gesellschafterin!“
    Auch jetzt blieb es still.
    „Kommen Sie heraus, und helfen Sie ihr den Strohsack hineintragen!“
    Aber drinnen in der Zelle rührte sich nichts.
    „Sie redet nicht und tut nichts als weinen“, flüsterte die Wachtmeisterin. „Vielleicht ist es ein Glück für sie, daß Sie kommen. Jetzt müssen Sie sich das Schlafzeug selbst hineintragen.“
    An der Tür lag ein Strohsack und eine wollene Decke, die letzte allerdings nicht hinreichend bei dieser winterlichen Kälte. Engelchen trug beides in die enge Zelle. Da lag bereits ein Strohsack auf dem Fußboden und darauf eine in die Decke eingehüllte Gestalt, welche das Gesicht nach der Wand gewendet hatte und sich nicht bewegte.
    So viel erblickte Engelchen beim Schein der Laterne, welche die Wachtmeisterin in der Hand trug. Sie machte sich ihr Lager so gut wie möglich fertig, und dann wurde ihr von der Frau eine „gute Nacht“ geboten. Die Tür ging zu. Angeln kreischten, Riegel klirrten; dann war es still.
    In der Zelle war es dunkel. Engelchen wickelte sich in die Decke und weinte leise vor sich hin. Wie ganz anders lag es sich doch daheim im warmen Bett! Nach und nach beruhigte sie sich, und ihre Tränen hörten auf zu fließen.
    Nun aber beängstigte sie die tiefe Stille. Sie lauschte. Kein Atemzug war zu hören. Es war wie im dunklen Grab, gerade als ob die andere Gefangene tot sei. Es überkam sie ein Grauen. Sie fürchtete sich, und darum nahm sie sich vor, die peinigende Stille zu unterbrechen.
    „Gustel!“ flüsterte sie.
    Es wurde ihr keine
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