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Totgesagt

Totgesagt

Titel: Totgesagt
Autoren: T Weaver
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später – allein sein würde. Und auch Derryn tat ihr leid. Bis heute riefen manchmal Leute an, baten mich um Hilfe und erzählten mir, sie hätten einen Zettel an der Pinnwand im Krankenhaus gelesen. Und vermutlich gefiel mir die Vorstellung, dass er dort immer noch hing. Irgendwo in diesem Labyrinth von Gängen, oder auch von der Sonne vergilbt in einem Schaufenster. Eine gewisse Symmetrie lag darin. Als würde Derryn irgendwie in dem weiterleben, was ich tat.
     
    Ich verbrachte den größten Teil des Tages damit, bei ausgeschaltetem Licht an meinem Schreibtisch zu sitzen. Ein paarmal klingelte das Telefon, doch ich nahm nicht ab, sondern lauschte auf den Nachhall des Telefons im Büro. Auf den Tag genau vor einem Jahr war Derryn auf einer Trage aus unserem Haus geholt worden. Sieben Stunden später war sie gestorben. Daher wusste ich, dass ich nicht in der richtigen Verfassung war, um irgendwelche Aufträge anzunehmen.
Ich fing an, meine Sachen zusammenzupacken, sobald es vier Uhr wurde.
    Genau in diesem Augenblick tauchte Mary Towne auf.
    Ich hörte sie die Treppe heraufkommen, langsam, Stufe für Stufe. Auch ihr Leben war ziemlich tragisch verlaufen: Ihr Mann litt unter Alzheimer, und ihr Sohn war vor sechs Jahren von zu Hause verschwunden, ohne irgendjemandem etwas zu sagen. Jahre später war er tot wieder aufgetaucht.
    Sie saß im Wartebereich, als ich hinausging.
    »Hi, Mary.«
    Ich hatte sie erschreckt. Sie blickte auf. Die Falten ließen ihr Gesicht dunkler wirken; jedes einzelne ihrer fünfzig Jahre hatte sich in ihre Haut eingegraben. Wahrscheinlich war sie einmal schön gewesen, doch ihr Leben war auf den Kopf gestellt worden, und inzwischen trug sie den Schmerz wie einen Mantel. Ihr schlanker Körper war leicht gebeugt. Aus ihren Wangen und Lippen war die Farbe gewichen. Dichte graue Strähnen waren an ihrem Haaransatz zu erkennen.
    »Hallo, David«, sagte sie leise. »Wie geht es Ihnen?«
    »Gut.« Ich schüttelte ihre Hand. »Lange nicht gesehen.«
    »Ja.« Sie blickte hinab in ihren Schoß. »Ein Jahr.«
    Sie meinte Derryns Beerdigung.
    »Wie geht es Malcolm?«
    Malcolm war ihr Mann. Sie schaute mich an und zuckte die Schultern.
    »Sie sind ein ganzes Stück gefahren«, stellte ich fest.
    »Ich weiß. Ich musste Sie treffen.«
    »Warum?«
    »Ich wollte etwas mit Ihnen besprechen.«
    Ich versuchte mir vorzustellen, worum es ging.
    »Ich konnte Sie telefonisch nicht erreichen«, erklärte sie.
    »Nein.«
    »Ich habe mehrmals angerufen.«

    »Es ist irgendwie …« Ich schaute zurück zu meinem Büro, blickte zu den Bildern von Derryn. »Es ist irgendwie eine schwierige Zeit für mich im Moment. Heute ganz besonders.«
    Sie nickte. »Das weiß ich. Es tut mir leid wegen des Zeitpunkts, David. Es ist bloß … Ich weiß, dass Sie das, was Sie tun, ernst nehmen. Diese Arbeit. So jemanden brauche ich. Jemanden, der es ernst nimmt.«
    Sie schaute mich an. »Deshalb mögen die Leute Sie. Sie verstehen etwas von Verlust.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob man Verlust jemals versteht.« Ich bemerkte die Traurigkeit in ihren Augen und fragte mich, wohin dies führen würde. »Schauen Sie, Mary, im Moment verfolge ich nichts und niemanden. Nur die Kratzer auf meinem Schreibtisch.«
    Sie nickte wieder. »Erinnern Sie sich, was mit Alex passiert ist?«
    Alex war ihr Sohn.
    »Natürlich.«
    »Erinnern Sie sich an alle Einzelheiten?«
    »An die meisten.«
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich alles noch einmal mit Ihnen durchspreche?«, fragte sie.
    Einen Moment lang betrachtete ich sie schweigend.
    » Bitte. «
    Ich nickte. »Warum gehen wir nicht ins Büro?«
    Ich führte sie vom Wartebereich zu meinem Schreibtisch. Sie blickte sich um, betrachtete die Fotos an den Wänden. Ihre Blicke wanderten von einem zum nächsten Bild.
    »Nehmen Sie Platz«, sagte ich und zog einen Stuhl für sie heran.
    Sie nickte dankbar.
    »Also, erzählen Sie mir von Alex.«

    »Er starb bei einem Autounfall vor etwas mehr als einem Jahr«, erklärte sie leise, während ich mich ihr gegenüber hinsetzte. »Er, äh … er war betrunken. Er fuhr einen Toyota, wie sein Vater einen hatte, und krachte seitlich in einen Lastwagen. Es war nur ein kleines Auto, und es landete fünfzehn Meter von der Straße entfernt mitten auf einem Feld; völlig verbrannt, genau wie er. Man musste ihn mit Hilfe der zahnärztlichen Unterlagen identifizieren.«
    Von diesem Punkt hatte ich nichts gewusst.
    Sie gewann ihre Fassung wieder. »Wissen Sie, was
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