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Kreuzstein

Kreuzstein

Titel: Kreuzstein
Autoren: Ulrich Schreiber
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    Es war noch früh am Morgen, ein ungemütlicher Morgen in den letzten Wintertagen am Rand des Westerwaldes, hoch oben im Übergang zum Rheintal. In den Tälern hingen Wolkenreste, die der einsetzende Wind mit kühler Leichtigkeit zerfetzte und spielerisch über die Hänge bis auf die Hochfläche des rechtsrheinischen Schiefergebirges hinauftrieb, wo sie sich schließlich in der dichten Wolkendecke verloren. Die Wege im Wald waren rutschig und verschlammt, die Hänge an vielen Stellen zerfurcht und der Erosion schutzlos ausgesetzt. Große Holzrückmaschinen hatten noch vor kurzem die im Winter gefällten Stämme abtransportiert. Schneereste und zusammengeschobene Äste säumten den Weg auf die Kuppe hinauf. Niemand war unterwegs. Nicht einmal die Hundebesitzer, die hier bei besserem Wetter ihren Tieren freien Lauf gaben. Für Mittag war wieder neuer Schneefall vorhergesagt.
    Sein Wagen stand oberhalb vom Bruch, dort wo die Spaziergänger ihre Fahrzeuge abstellten. Er kam jetzt im dritten Jahr, immer um diese Zeit, wenn der Frost ihm wieder einen Teil seiner Arbeit abgenommen hatte. Doch diesmal hatte er ein langes Plastikrohr dabei, aus dem Baumarkt, zum Verlegen von dickeren Kabeln. In einem Stoffbeutel trug er einen kleinen Klappspaten und eine Harke mit Teleskopstiel.
    Zügig marschierte er auf die Kante des alten Steinbruchs zu, an der der Schnee schon länger abgetaut war. Trotz der leichten Anstrengung fröstelte er, die Kälte kroch ihm langsam die Hosenbeine empor. Nur noch zwei Schritte, und er stand genau vor dem Abbruch an der senkrechten Wand. Er sparte es sich, direkt von der Kante in das große, wassergefüllte Loch des Steinbruchs zu sehen. Viel zu gefährlich bei dieser Nässe. Außerdem war er nicht völlig schwindelfrei.
    Einen Augenblick lang stand er da und starrte in den Nebelschleier unterhalb des Steinbruches. Der Wind nahm zu und riss eine Lücke in das trübe Grau. Schemenhaft konnte er die Umrisse von zwei Gebäuden erkennen. Die Kälte in seinen Beinen verstärkte sich, er fing furchtbar an zu zittern.
    Ruckartig drehte er sich um und schritt eine Strecke von sechs Metern ab. Da war sie wieder, die Spalte, die er seit drei Jahren beobachtete, jedes Jahr mit größerer Genugtuung. Wieder war sie geöffnet, nur wenige Millimeter, aber doch genug, um zu sehen, dass es weiterging. Prüfend schritt er die gesamte Länge ab, parallel zur Steinbruchkante. 64 Meter, mehr als die Hälfte des alten Bruchs. Und sie hatten sie noch nicht entdeckt. Nirgendwo ein Messpunkt, nirgends Einbauten zur Abstandsmessung.
    An einer Stelle, fast in der Mitte, machte der Riss einen Sprung um mehrere Zentimeter. Der Gesteinsbrocken klemmte noch immer an dieser Stelle. Nach einigem Drücken ließ er sich leicht herausnehmen. Der Riss darunter war deutlich breiter und nicht verfüllt. Vorsichtig führte er das Plastikrohr in die Spalte ein. Auf den letzten Zentimetern blieb es hängen, aber er trieb es mit dem Gesteinsbrocken in die Tiefe. Anschließend setzte er den Stein erneut ein. Jetzt sah alles wieder aus wie vorher.
    An drei Stellen war der Abraum, der unbrauchbare lockere Boden, zu kleinen Halden aufgehäuft. Die Haufen stammten aus der Zeit des Abbaus. Damals hatten sie weit vorgearbeitet und den Fels der halben Kuppe freigelegt. Den Rücken gegen den Wind gestemmt, füllte er zwei stabile Plastiktüten mit Erde und trug sie zur Spalte. Sorgsam verteilte er sie über dem frischen Riss, trat sie mit dem Stiefel sachte fest und glich ab und zu die tiefsten Stellen erneut mit Erde aus. Für die Länge der Spalte benötigte er einige Zeit, aber schließlich konnte er mit der Harke die überstehenden Reste verteilen. Dann streute er noch einige Hände voll Tannennadeln und Laubreste locker über den frischen Boden, sodass seine jüngsten Verfüllungen nicht mehr zu sehen waren. Zufrieden warf er einen Blick auf sein Werk. Jetzt mussten nur noch die Abgrabungen an den kleinen Halden getarnt werden. Als er eine Hand voll Streu auf die frische Stelle der mittleren kleinen Halde warf, fiel ihm eine weiße Keramik auf, die am hinteren Rand des Erdhügels hervorschaute.
    Ach, das stammt wahrscheinlich nur von Kindern aus dem nah gelegenen Ort, dachte er, beschloss aber trotzdem, sich das Teil genauer anzusehen.
    In einer senkrecht stehenden ovalen Keramikschüssel, die zu einem Drittel in der Erde steckte, hatte jemand Haselnüsse, Apfelspalten und eine kleine Karotte angeordnet. Sie lagen auf einem Polster aus
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