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Totgesagt

Totgesagt

Titel: Totgesagt
Autoren: T Weaver
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das Schlimmste war? Ehe er starb, war er einfach gegangen. Wir hatten ihn fünf Jahre lang nicht gesehen. Nach allem, was wir als Familie zusammen erlebt hatten, ging er einfach.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich.
    »Das Einzige, das er mir hinterlassen hat, ist die Erinnerung an seinen Körper auf einem Tisch in der Leichenhalle. Dieses Bild werde ich nie aus meinem Kopf bekommen. Eine Zeit lang öffnete ich mitten in der Nacht die Augen und sah ihn so neben meinem Bett stehen.« Ihre Augen glänzten. »Sie haben Alex doch kennengelernt, oder?«
    Sie nahm ein Foto heraus. Ich hatte Alex allerdings nie persönlich getroffen, sondern nur über Derryn von ihm gehört. Das Foto zeigte Mary, die Arme um einen Mann Anfang zwanzig gelegt. Attraktiv. Schwarzes Haar. Grüne Augen. Einsachtzig wahrscheinlich und gebaut, als wäre er in seiner Jugend ein Schwimmer gewesen. Auf seinem Gesicht lag ein breites, warmes Lächeln.
    »Das ist Alex. War Alex. Das ist das letzte Foto, das wir von ihm gemacht haben, unten in Brighton.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Bild und lächelte. »Das war wenige Tage, bevor er verschwand.«
    »Es ist ein schönes Foto.«
    »Er war fünf Jahre lang verschwunden, ehe er starb.«

    »Ja, das sagten Sie.«
    »Während all der Zeit haben wir kein einziges Mal von ihm gehört.«
    »Das tut mir wirklich leid, Mary«, sagte ich, weil ich das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.
    »Ich weiß«, entgegnete sie leise. »Deshalb sind Sie ja meine einzige Hoffnung.«
    Ich betrachtete sie interessiert.
    »Ich möchte nicht wie eine Mutter klingen, die nicht über die Tatsache hinwegkommt, dass ihr Sohn gestorben ist. Glauben Sie mir, ich weiß, dass er tot ist. Ich habe ihn dort mit eigenen Augen liegen sehen.« Sie machte eine Pause. Ich dachte, sie würde anfangen zu weinen, doch dann strich sie mit beiden Händen ihr Haar aus dem Gesicht, und ihre Augen wurden dunkler, konzentrierter. »Vor drei Monaten kam ich spät von der Arbeit, und als ich den Bahnhof erreichte, war mein Zug schon weg. Ich konnte ihn gerade noch abfahren sehen. Wenn ich einen Zug verpasse, muss ich fünfzig Minuten auf den nächsten warten. Das ist mir schon mehrmals passiert. Dann gehe ich jedes Mal zu einem netten Café in der Nähe des Bahnhofs, setze mich in eine Nische und sehe dem Treiben der Welt zu.«
    Sie zog die Stirn in Falten. »Jedenfalls dachte ich an meine Arbeit, an ein paar Patienten, mit denen ich am selben Tag zu tun gehabt hatte, als ich …« Sie musterte mich für einen Augenblick. Sie versuchte zu entscheiden, ob sie mir trauen konnte. »Ich sah Alex.«
    Einige Augenblicke verstrichen, ehe es bei mir ankam: Sie sagt, sie hat ihren toten Sohn gesehen.
    »Ich, äh, ich verstehe Sie nicht richtig.«
    »Ich sah Alex.«
    »Sie sahen Alex?«
    »Ja.«

    »Was meinen Sie damit, dass Sie ihn sahen?«
    »Ich meine damit, dass ich ihn gesehen habe.«
    Ich schüttelte den Kopf. »W… wie denn ?«
    »Er ging auf der anderen Straßenseite.«
    »Es war jemand, der Alex sehr ähnlich sah.«
    »Nein«, erwiderte sie mit leiser, kontrollierter Stimme. »Es war Alex.«
    »Aber er ist tot.«
    »Ich weiß, dass er tot ist.«
    »Aber wie hätte er es dann sein können?«
    »Er war es, David.«
    »Wie soll das möglich sein?«
    »Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie. »Aber ich bin nicht verrückt. Ich sehe weder meine Mutter noch meine Schwester. Ich schwöre Ihnen, David, dass ich Alex an jenem Tag gesehen habe. Ich habe ihn gesehen .«
    Sie beugte sich vor. »Ich zahle im Voraus«, sagte sie schnell. »Das ist der einzige Weg, Sie davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage. Ich werde Ihnen vorher Geld geben. Mein Geld.«
    »Haben Sie das gemeldet?«
    »Bei der Polizei ?«
    »Ja.«
    »Natürlich nicht.«
    »Das sollten Sie aber.«
    »Wozu?«
    »Weil man das so macht, Mary.«
    »Mein Sohn ist tot, David. Denken Sie, man würde mir dort glauben?«
    »Warum dachten Sie dann, dass ich Ihnen glauben würde?«
    Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen. »Ich kenne ein wenig von Ihrem Schmerz, David, glauben Sie mir. Mein
Vetter ist an Krebs gestorben. In vielerlei Hinsicht reißt diese Krankheit die ganze Familie mit sich fort. Man kümmert sich so lange um jemanden, man sieht denjenigen in diesem Zustand, man gewöhnt sich daran, dass er so ist , und dann, wenn er plötzlich nicht mehr da ist, verliert man nicht nur ihn, sondern auch das, was die Krankheit ins eigene Leben gebracht hat. Man verliert den Tagesablauf
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