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Mord auf Widerruf

Mord auf Widerruf

Titel: Mord auf Widerruf
Autoren: Reginald Hill
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Pascoe den Stiftsherrn noch nie erlebt.
    Seine Frau sagte nachdenklich: »Und ich habe auch etwas, das ich dir sagen möchte, mein Lieber. Eileen Chung meinte, daß es eines Tages soweit sein würde, und ich wollte ihr nicht glauben. Aber sie hatte anscheinend recht. Ist sie nicht wahrhaft wunderbar, Mr. Pascoe? Ohne sie hätte ich wohl tatsächlich irgendwann Briefe geschrieben, vielleicht nicht an Mr. Dalziel, aber mit Sicherheit über dasselbe Thema wie die arme Frau.«
    »Dorothy, hörst du mich? Ich verbiete dir, weiterhin mit diesem Mann zu reden!«
    Es war der letzte, verzweifelte Aufschrei eines Schamanen, in dem der Verdacht aufkeimt, daß sein Zauberstab Trockenfäule hat.
    Dorothy Horncastle zog die Nüstern hoch wie ein Tier, das den Wind auf Gefahr prüft. Dann lächelte sie fröhlich.
    »Ich höre dich sehr wohl, Eustace«, sagte sie. »Aber ich fürchte, ich kann dir nicht länger gehorchen. Laß mich nachdenken, was hat Eileen gesagt? O ja … da fällt es mir wieder ein. Eustace, warum verschwindest du nicht und fickst dich ins Knie?«
    Es war ein magischer Augenblick, aber für Pascoe hatte er insofern einen Makel, weil in ihm der letzte Funke von Zweifel schwand.
    Dorothy Horncastle war nicht die dunkle Lady. Das bedeutete, daß er versagt hatte, wenn die Drohung des letzten Briefes ernst gemeint war.
    Er durfte noch nicht einmal beim endgültigen Zusammenbruch des Stiftsherrn zusehen, dessen Selbstbild zersplitterte wie der Zeichentrick-Kater, der gegen eine Mauer gerannt war. Wield zog ihn am Arm und sagte drängend: »Ich glaube, hier ist etwas, das du dir ansehen solltest. Nichts, was du nicht schon gesehen hättest, nur nachdem ich die Briefe gelesen habe … tja, es paßt so gut …«
    Er drückte Pascoe die Sondernummer der »Evening Post« in die Hand.
    Pascoe las, zuerst ungeduldig und dann ungläubig. Dann riß er Wield die Akte der dunklen Lady aus der Hand und begann sie durchzublättern.
    »Nein, das kann nicht stimmen«, sagte er. »Es kann nicht stimmen.«
    Er nahm den letzten Brief heraus und las ihn verzweifelt durch.
    »Mrs. Horncastle«, sagte er. »Die Worte ›Nicht um alles in der Welt, Turm und Stadt, Wald und Feld‹, sagen die Ihnen etwas?«
    »Sie kommen mir bekannt vor. Lassen Sie mich überlegen. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, daß sie aus einem der Mysterienspiele stammen. Stimmt. Aus der ›Versuchung‹. Der Teufel nimmt Jesus auf das Dach des Tempels und sagt ihm als erstes, er solle sein Gottsein dadurch beweisen, daß er vom Dach springt. Dann behauptet er, die ganze Welt zu beherrschen, das heißt Turm und Stadt, Wald und Feld, und bietet sie Jesus als Gegenleistung dafür an, daß er sich niederwirft und ihn anbetet.«
    »Das Dach des Tempels, sagen Sie? O Gott!« schrie Pascoe. »O mein Gott!«

Drei
    N och einmal rannten sie, zwängten sich durch die dicht an dicht stehenden Menschen und sprinteten über die enge Straße, über die ein Brüllen wie eine Flutwelle hinwegrollte. Es war das Signal, daß die Prozession durch den alten Torbogen auf dem Münsterplatz eintraf.
    Die Stufen der Kathedrale waren mit Menschen gesteckt voll, und das hohe Eichenportal mit seinem geschnitzten Doppelfries, auf dem Sakrales und Profanes kunstvoll ineinander verschlungen waren, war fest verschlossen. Wield wandte sich nach links, Pascoe nach rechts. Ausnahmsweise stimmten die Schilder, denn schon wenige Sekunden, nachdem er die Menschenmenge hinter sich gelassen hatte, fand Pascoe beim Absuchen der den Blick verstellenden Strebepfeiler an der Gebäudeseite eine kleine, niedrige Tür, die unter seiner Berührung nachgab.
    Drinnen war es dunkel und still, als wartete und lauschte da etwas, als bemühte sich das alte Gotteshaus, die herannahende Prozession, den Klang, den es seit über hundert Jahren nicht mehr vernommen hatte, zu hören.
    Er hatte keine Zeit für abstruse Überlegungen und auch keine für Ehrerbietung. Er sprintete mit blasphemischer Hast ein Seitenschiff entlang, durch einen mißbilligenden Säulenwald hindurch, bis er die Tür zum großen Turm erreichte. Auch diese war offen, und so warf er sich von dem riesigen, mit den Schwingungen der Unendlichkeit erfüllten Raum in die erstickende Enge der Wendeltreppe, die nur von der Hitze und dem rauhen Röcheln seines Atems erfüllt war.
    Der Treppenaufgang war rundum geschlossen, ohne Lichtpunkte, an denen man sich hätte orientieren können, und nach einigen Augenblicken kam es Pascoe so vor, als würde er in
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