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Moon

Moon

Titel: Moon
Autoren: James Herbert
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immer gebannt war.
    Und er fühlte, wie das kalte heimtückische Kribbeln zurückkehrte. Wie sich seine Haut wieder straffte. Wie
    sich die Härchen auf seinen Armen wieder aufrichteten.
    Childes' Kopf ruckte hoch. Er starrte in die wogenden Nebel, dorthin, wo die Frau verschwunden war. Sein Mund klappte auf, seine Augen weiteten sich schmerzhaft, und das Zittern war wieder da.
    Trotz seiner Kurzsichtigkeit konnte er sie sehen...
    ... diese große Hand mit den Stummelfingern, die sich über die Brüstung krümmten, die sich festkrallten wie eine fleischige Klammer. Die sie festhielten und vor dem Sturz in die Tiefe bewahrten.
    »Nein«, murmelte er. Ein tonloses Flüstern. »O nein!«
    War da tatsächlich ein bettelndes Aufflackern in Annabels sonst so glanzlosen Augen?
    Childes drehte sich, stützte sich auf die Knie, tastete mit einer zitternden Hand nach oben, zum Mauersims, und zerrte sich vollends hoch. Seine Beine weigerten sich, sein Gewicht zu tragen. Aber dann kehrten seine Kräfte zurück, wie Blut, das schmerzhaft in ein eingeschlafenes Körperglied zurückströmte.
    Sekundenlang lehnte er sich schwer gegen die Mauer, dann setzte er sich in Bewegung und stolperte auf die Hand zu, die sich an der Mauer festklammerte. Die Nebelschwaden wurden wieder dichter, einzelne Gestalten bildeten sich von neuem. Childes tappte weiter. Auf unsicheren Füßen setzte er Schritt vor Schritt, er war noch immer betäubt von all dem, was hier geschehen war. Er kam näher. Da war die Hand, ganz deutlich zu sehen. Die Nebelgeister huschten auseinander.
    Sie beobachteten ihn, entrückt und gleichmütig. Der grinsende alte Mann, dessen Schädel dem Himmel offen war. Der nackte Junge, der etwas Weißes und Blutiges in seiner zierlichen Hand hielt, etwas, das er immer wieder in die tiefe Wunde in seinem Leib zu schieben versuchte, als wolle er damit sein verlorenes Herz ersetzen. Die grotesk geschminkte Frau, deren Brüste fehlten und deren Bauch sich in kleinen Höckern wölbte, als sie die aufgeschnittenen Hautlappen zusammenraffte. Die Schülerinnen und die Hausmutter, grausige, verkohlte Gestalten, deren Knochen matt durch klaffende Fleischwunden schimmerten. Der Uniformierte mit seinem doppelten knappen Lächeln, eins oberhalb und eins unterhalb seines Kinns. Estelle Piprelly, für einen winzigen Moment wieder so, wie er sie gekannt hatte: aufrecht und streng und gerecht; sie sah ihm in die Augen, und er spürte den Aufruhr ihrer Gefühle.
    Sie alle beobachteten ihn. Sie alle warteten.
    Er erreichte die Stelle, an der sich die Hand über die Mauer wölbte, und die Finger schienen zu vibrieren unter der gewaltigen Kraftanstrengung, die es kostete, das volle Gewicht der Frau zu halten. Er sah das fleischige Handgelenk, und er sah den Ärmel des Anoraks jenseits des Ellenbogens in der Tiefe verschwinden. Childes lehnte sich über die Brüstung.
    Ihr rundes Gesicht war direkt unter ihm, vom Mond grausam hell ausgeleuchtet; eine geschmeidige, dunkle Flüssigkeit überzog Kiefer und Wangen wie ein Schattengewächs. Ein Auge und eine tiefe, schwarze, triefende Augenhöhle erwiderten seinen Blick; ihr anderer Arm hing nutzlos und schlaff an ihrer Seite.
    »Hilf... mir...« sagte sie mit ihrer dunklen, krächzenden Stimme, und da war kein Bitten in ihrem Tonfall.
    Als er in ihr breites Gesicht hinabschaute, auf ihr silbernes, in einem wilden Gewirr ausgebreitetes Haar, da spürte er ihren Wahnsinn wieder, da spürte er die schleichende Krankheit, die über ihren frevelhaften und verdorbenen Geist hinausging, über diesen Geist, der zur
    Rechtfertigung des Bösen, das sie selbst verübte, eine mythische Mondgöttin anbetete. Die Krankheit entsprang einer grausamen und verwucherten Seele, einem Geist, der in sich selbst böse und dämonisch war. Er fühlte und sah ihr entstelltes Wesen nicht in dem Auge, das haßerfüllt zu ihm heraufstarrte, sondern in diesem anderen, tiefen, dunklen, blutigen Loch, das ihn mit derselben Boshaftigkeit betrachtete! Und die Worte Hilf... mir... waren so voller Hohn, so lebendig vor Spott. Childes fühlte und sah diese Dinge, weil sie in ihm war und er in ihr, und sie erfüllte ihn mit ihren Bildern, monströsen und ekelhaften Bildern, abstoßend und widerwärtig. Sie genoß das Spiel noch immer. Ihr Spiel. Ihre Folter.
    Der zeitlose Moment war vorbei. Childes' Hände schlossen sich über ihrer dicken Stummelhand, und jetzt erschauderte ihr Geist unter einer neuen Empfindung.
    Angst. Es war Angst. Sie
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