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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern
Autoren: Leif Davidsen
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PROLOG
     
    E s war eine Geschichte, die die auf ihre Sicherheit hin überprüften Dozenten der zivilen Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes und die diensthabenden höheren Offiziere sowie die beauftragten Mitarbeiter beim PND, dem Polizeilichen Nachrichtendienst, oft erzählten, wenn sie die neuen Freiwilligen in die besonderen Bedingungen einweihen sollten, unter denen die Geheimdienste in einer postkommunistischen Wirklichkeit operieren mußten. Von Anfang an wurde den jungen und etwas verlegenen Kandidaten, die der Vorlesung über den Fall, wie er genannt wurde, mit Spannung entgegensahen, die Bedeutung der Schweigepflicht und der unbedingten Einhaltung der Archivvorschriften eingetrichtert. Unter keinen Umständen durfte man dem Lebenspartner, wie es politisch korrekt hieß, die Geschichte zu Hause auf dem Sofa erzählen. Die tief verwurzelte Geringschätzung der Historiker gegenüber Informationen, die nicht mindestens fünfundsiebzig Jahre alt sind, ist bekannt, für sie war der Fall also aktuell, während die neuen Kandidaten ihn eher als komische Vergangenheit betrachteten. Das Erinnerungsvermögen reichte mittlerweile höchstens noch von einer Nachrichtensendung bis zur nächsten. Zumindest nicht viel weiter als bis zu der Hippiezeit, der Besetzung des Landes durch die Deutschen und den bizarren Siebzigern, als die Studenten eine sozialistische Revolution herbeisehnten. Für die jungen Leute war die Chronologie manchmal ein bißchen trübe. Für die Älteren war der Mangel der Jungen an historischem Wissen ein immer wiederkehrendes Thema in der Kantine. Es war deshalb unvermeidlich, daß sich in den Vorlesungen der Zivilabteilung des MND oder in den PND-Kursen für zukünftige Analytiker oft eine Tendenz zum Gebrauch literarischer Mittel einschlich. Während dergleichen in der akademischen Welt als ehrenrührig gilt, fanden die angehenden Führungsoffiziere und Kräfte der Spionageabwehr, daß die Geschichte durch literarische Mittel nur noch interessanter wurde. Um es geradeheraus zu sagen: Die kommenden Agenten hörten dann einfach besser zu.
    Da der Fall in seinen Einzelheiten nur einem sehr engen Kreis bekannt war und mit der üblichen grenzenlosen dänischen Neunmalklugheit für die nächsten fünfundsiebzig Jahre in den Archiven verschlossen worden war, waren es nur die Erfahrensten, die den vollen Durchblick hatten und Vorträge darüber halten durften. Hauptsächlich deswegen hatte der Fall so ein großes Prestige. Mal abgesehen von der befremdlichen Liaison, bei der so unterschiedliche Ideologien miteinander ins Bett steigen wollten. Aber eigentlich sollte der Fall den kommenden Agenten und Leuten der Spionageabwehr nur vor Augen führen, daß Spione schon zu biblischen Zeiten existiert hatten und immer existieren würden. Außerdem zeigte er, daß die Budgetforderungen der Geheimdienste auf alle Fälle gerechtfertigt waren. Mit oder ohne Berliner Mauer. Es gibt Verrat und Loyalität. Es gibt Menschen, die jeden Tag eine Wahl treffen. Der Mensch ist leicht zu verführen. Es handelt sich um einen Job ohne Arbeitslosigkeit. Das war die Botschaft. Es geht um Fakten. Trotzdem konnten es nicht einmal die am gründlichsten überprüften Dozenten des MND oder PND lassen, eine gewisse fiktive Kreativität in ihre Vorlesungen einfließen zu lassen. Das erhöhte immer das Interesse. Eigentlich konnten sie es nicht genau wissen, aber es war ein oft gebrauchtes Eingangsgebet, das Bild der Lage im neuen demokratischen Estland heraufzubeschwören. Obwohl man es mit Leuten zu tun hatte, die sich freiwillig zum Geheimdienst und seinen Beschränkungen gemeldet hatten, hatten die paar farbenfrohen, gefühlsbeladenen Adjektive, mit denen Jette Vuldom, Chefin und Guru in einem, häufig ihre Predigt anfing, wenn sie einmal der Verwaltung entfliehen und die künftigen Beschützer der Staatsgeheimnisse unterrichten durfte, der Ernsthaftigkeit nie geschadet.
    Sie hatte fast alles überlebt, konnte Politiker lenken, die Jungs hatten sie in ihr Herz geschlossen, und sie war die stets loyale und pädagogische Anwältin gegenüber den ahnungslosen, gierigen Medien. Oft leitete die Vuldom die Taufe der Neuen damit ein, daß sie sich auf ihr Recht berief, das scheinbar unschuldige Bild, genannt Normalzustand und Zeit, zu interpretieren, und deshalb begann sie manchmal, wenn sie ihre Schüler für reif genug erachtete, in die besondere Bruder- und Schwesternschaft der Geheimdienste einzutreten, die Geschichte von
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