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Mond der verlorenen Seelen

Mond der verlorenen Seelen

Titel: Mond der verlorenen Seelen
Autoren: Elke Meyer
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die Toten in die Tiefe. Erleichtert rappelte sie sich auf und lief weiter, als das Jaulen eines Wolfes erklang.
    Lass dich nicht schon wieder ablenken, ermahnte sie sich und raste den steilen Hügel hoch. Es war ein seltsames Gefühl, dabei nicht außer Atem zu geraten.
    Bevor sie die Kuppe erreichte, erfasste sie der kalte Atem eines Dämons. Er war dicht hinter ihr. Ein Schauder lief ihren Rücken hinab. Sie lief im Zickzack zwischen den Bäumen. Der Dämon klebte an ihren Hacken. Ein Surren wie das eines Bienenschwarms ertönte über ihr, bis es abrupt verstummte. Amber wagte nicht, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Da versperrte ihr der Verfolger den Weg. Amber erstarrte, als der Dämon in Gestalt eines riesigen Wolfs mit Greifenflügeln und Schlangenschwanz vor ihr stand und voller Gier auf sie herabblickte. Er riss mit lautem Jaulen sein Maul weit auf und spie Flammen. In letzter Sekunde sprang Amber beiseite. Sie spürte die Energie, die sie durchflutete, und streckte ihm die Arme entgegen. Blitze zuckten aus ihren Händen und zielten auf den Dämon. Doch in Bruchteilen von Sekunden wechselte er die Position und stand fauchend hinter ihr. Amber wirbelte herum, ihre Arme in Abwehrposition, aber der Dämon war schneller. Bevor sie sich auf die Energieblitze konzentrieren konnte, peitschte sein Schwanz durch die Luft und traf sie mit voller Wucht an der Hüfte. Vor Schmerz schrie sie auf und kippte um wie ein gefällter Baum. Erneut holte der Dämon aus. Diesmal rollte Amber zur Seite, bevor der Schwanz eine dampfende Furche im Boden hinterließ, wo sie eben noch gelegen hatte. Als sie aufblickte, stand der Dämon über ihr. Seine Lefzen zogen sich hoch und entblößten dolchartige Hauer, von denen Geifer auf sie herabtropfte. In seinen Augen lagen Triumph und Gier. Sie glaubte, seinen üblen Geruch nach Fäulnis zu riechen.
    Was hätte sie in diesem Augenblick um das Flammenschwert gegeben. Aber es war nur möglich, ohne Waffen in die Dämonenwelt einzutauchen. Eine verfluchte Prüfung, auf die sie sich da eingelassen hatte, aber die sie selbst verlangt hatte. Sie versuchte es mit erneuten Energiestößen aus ihren Händen, konzentrierte sich auf deren Stärke, aber es wollte ihr nicht gelingen. Stattdessen packte der Dämon sie am Bein und schleuderte sie durch die Luft wie eine Puppe, dass ihr schwindlig wurde. Sie hatte Karussellfahren noch nie leiden können.
    Plötzlich ließ er sie los, und Amber segelte meterweit durch die Luft. Sie schrie und ruderte Halt suchend mit ihren Armen, bis sie gegen den Stamm einer Kiefer krachte. Ihre Knochen knackten, und sie glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Wie konnte sie Schmerzen ohne Körper empfinden? Doch es blieb keine Zeit, dem Schmerz nachzugeben und darüber nachzugrübeln, denn schon folgte die nächste Attacke ihres Gegners, der sie rechtzeitig ausweichen konnte. Verdammt, wie sollte sie sich bei dieser Schnelligkeit des Dämons auf ihr Innerstes konzentrieren, um ihre Kräfte zu mobilisieren? Unmöglich.
    „Scheiße, die Schwäche, seine Schwäche, verdammt, was hat dieser Dämon bloß für eine Schwäche?“, murmelte sie, aber die Lösung wollte ihr nicht einfallen. Sie beobachtete, wie sein Schwanz ein weiteres Mal ausholte, während ihr Hirn fieberhaft noch immer nach einer Lösung suchte. Sie wollte nicht versagen, wollte hiermit beweisen, dass sie es schaffen konnte.
    Amber schloss die Augen. Was konnte ihr in einer Welt voller Geister helfen? „Geister des Windes, tragt mich davon!“, rief sie und breitete die Arme aus.
    Der Schwanz des Dämons schlug gegen den Baum und zertrümmerte Stamm und Krone. Aber da befand Amber sich bereits von unsichtbaren Händen getragen hoch über ihm. Der Dämon brüllte vor Zorn und spie erneut Feuer. Auch wenn sie ihm jetzt entkommen war, noch hatte sie das Ziel nicht erreicht.
    „Setzt mich da unten ab“, befahl sie ihren unsichtbaren Rettern, die die Schwelle zum Steinkreis nicht übertreten durften. Kurz darauf landete sie hinter dem Wald und der Nebelbank auf der Wiese mit dem aufrechten Menhir. Erst wenn sie dort dem süß lockenden Ruf der Schattenwelt widerstand, hätte sie ihr Ziel erreicht. Wie schwer das war, wusste sie aus Erfahrung, aus der Zeit, als sie das Mal getragen hatte.
    Hermit hatte ihr erklärt, es erginge ihr ähnlich wie Odysseus vor der Sireneninsel, und vielleicht noch schlimmer. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie
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