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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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im Älterwerden. Während sie redet, geht sie zu der niedrigen Heizung, hebt das Bein, setzt es auf dem Heizkörper ab, lüftet den Rock und lässt die Heizungsluft darunterströmen. Es ist diese Schamlosigkeit, zu der der »cauchemar« berechtigt. In ihr umarme ich auch den Albtraum.
     
    »Heute gehe ich nicht mit dir ins Bett«, sagt sie, »heute singe ich dir ein Chanson.« Spricht’s, stellt sich im Matrosenpyjama neben das Bett und intoniert wirklich:
    »Schau mich bitte nicht so an …«, ganz zart mit einem voller Inbrunst herausgeschmetterten Refrain: »La vie en rose.« Es ist rückhaltlos und doch nicht peinlich, gibt es doch diesen Moment im Moment, den man aushalten muss wie die Nadel auf dem Nerv. Aber diesen Moment gibt es im Lied auch. Warum soll es ihn also nicht außerhalb seiner geben?
    Wir treffen uns vielleicht nicht in der Liebe. Aber wir arbeiten beharrlich an der Leerstelle, die wir hinterlassen haben wollen, wenn wir getrennt sein werden. Wochen später bringt sie das brieflich auf den Begriff: »Ich vernimmerwiedersehne mich.«
     
    Die Freunde gehen nach und nach. Um zwei hat der letzte seinen Mantel genommen, die Tür klappt. Zu viel Rauch, zu viel Gerede im Raum. Sie kommt wortlos, ich liege bäuchlings auf dem Teppich. Sie öffnet die Fenster, löscht das Licht, zündet zwei Kerzen an, streckt sich der Länge nach auf meinem Rücken aus. Wir liegen stumm. Keine Tritte auf der Treppe mehr, kein Auto draußen auf dem Kopfsteinpflaster, alles schweigt oder stellt sich still. Es ist eine Stimmung wie auf Klees »Engel im Werden«. Eine Weile nur, dann hebt sie wie ahnungsvoll den Kopf und sagt dumpf in den nächtlichen Kerzenschein hinein:
    »Lil Dagover ist tot!«
     
    Im Schatten der Bahnlinie, im Schatten der Küstenstraße auch, liegt in Kapstadt der Strand der Einheimischen mit seinen bunten Badekabinen, mit den Familienrudeln unter Sonnenschirmen. Sie kommen mit Steppdecken und Ballons, Halbwüchsige gehen auf den Händen, Mütter stillen, Dreijährige tragen aufwendige Flechtfrisuren und kämpfen mit den Gummistrippen ihrer Taucherbrillen. Im Wasser brüten die massigen Vater-Bullen mit Frotteehandtüchern um die Schultern und betrachten die Wellen wie die abendlichen Fernsehnachrichten, und Mädchen staksen mit abgespreizten Fingern in die kleinsten Wellen.
    Ein Frauenzirkel hat sich abseits gebildet. Man trinkt Cola mit dem Strohhalm und blickt von Zeit zu Zeit besorgt auf die beiden fettleibigen Knaben, die auf der äußersten Klippenspitze der Brandung trotzen, von Kopf bis Fuß von der Gischt eingeschäumt. Vom Verkehr der Straße kein Mucks, so laut ist der Ozean, durch dessen Brausen nur die Vogel- und die Kinderschreie schneiden. Weiter draußen schaukeln die dunklen Köpfe der Algenbüschel auf den Wogen. Ein trauriger weißer Terrier. Eine Alte mit Badehandtuch, von den Umrissen eines Cannabisblatts eingehüllt. Der Zug schreit in den Schienen, ein halbwüchsiges Mädchen mit protzendem Busen balanciert auf einem Ball hinter ihm her, so scheint es. Sie wird, als sie abspringt, mit Applaus bedacht, wirft den Ball in die Wogen, wirft sich hinterher. Es gibt auch kleine Schönheiten mit Zahnstocherbeinen und Korkenzieherlocken, zwei muslimische Mädchen in voller Montur, nie gehend, immer schreitend, schon der blauen Muschelsplitter wegen.
    Dann nimmt sich der Schatten die Bucht, verdunkelt die Farben, kühlt die Temperamente, alle scheinen jetzt langsamer zu werden wie die Eidechsen im Spätsommer, sehen nur hinaus oder vor sich, selbst wenn sie reden, immer vor sich, auf das Meer zu, denn dieses oder die Schatten, sie holen jeden Einzelnen heim. Allein die Alten gestikulieren nun noch, als müssten sie ihren Platz behaupten, mit jeder in die Luft gestochenen Geste Präsenz behaupten, und das Mädchen, das auf dem Ball balancierte, wirft Nüsse in die Luft und fängt sie mit dem Mund.
     
    Der Zug fährt an: alles beginnt! Das Gefühl dazu heißt: große Ferien! Früher saß ich in Fahrtrichtung, hungrig, alles zuerst zu sehen, was kam. Später saß ich gegen die Fahrtrichtung, um von allem Abschied zu nehmen, was ging. Heute springe ich hin und her und genieße das Dazwischen. Zufrieden, keinen Einfluss mehr zu haben, freue ich mich, dass sich ein Ziel nähert, dass es Beschleunigung gibt, dass das Klopfen des Zugs den Soundtrack der Reise skandiert und ich mich erinnere: Große Ferien!
     
    Ich gehe durch einen Wald, und es ist ein kaputter Wald. Niemand kann froh sein,
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