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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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mitten in die Pfütze unter seinem Bauchfell. Dieses Strotzen vor Vitalität und Übertreibung, dieses Bersten des Bildes ist der Moment, da es sich selbst überschreitet und Inbegriff wird.
     
    Allmählich hebt der Mann an meiner Seite, von drei Gläsern Strongbow benebelt, den Kopf zu einem Foto über der Bar, auf dem man eine indische Teepflückerin bei der Arbeit sieht. Ihr grünbraunes Gesicht lässt sich zwischen den Blättern kaum richtig erkennen. Die Plantage hat die Frau so völlig aufgenommen wie in tierischer Mimikry. Knapp über dem Horizont steht die Sonne ernst und ocker. Gleich wird die Pflückerin mit ihr untergegangen sein.
    »Das ist das schönste Bild, das ich seit einem Jahr gesehen habe«, teilt mir mein Nachbar mit.
    Dann fängt er an dieser Theke ganz leise zu singen an, wozu er sich die Hände an die Ohren presst, damit er sich besser hören kann.
     
    Einmal sitze ich in einem Londoner Hinterhof und schreibe. Zwischen halb elf und elf haben die Kinder in der benachbarten Schule ihre erste Pause. Über diese halbe Stunde füllt sich der Hof, füllen sich die Schluchten der benachbarten Straßen mit der Kakophonie der Rufe, Pfiffe, des Gellens und Krakeelens. Doch an diesem Tag dringt mitten aus dieser Brandung ein einzelner isolierter Schrei, ein Schrei ohne Geschlecht, ein Klang mehr, der in sich steht, ein autonomer, ganz in der Produktion seiner hohen Phonstärke erschöpfter Schrei, einer, dem man weder Zorn noch Warnung, weder Empörung noch Freude anhören kann, eine Hervorbringung von Schallwellen, die aus einem Rachen aufsteigen wie eine Säule – einer Fanfare, einem akustischen Schneidbrenner ähnlich –, ein ausdrucksloser Schrei also, der gerade durch die ihm innewohnende Stille eindrücklich wirkt. Ich beschreibe ihn jetzt nicht richtig, weil ich ihm eine Interessantheit zufüge, die er nicht hatte. Als er mich aber in meinen Gedanken aufschreckt, ist es, als sei ich auf ein Grundelement gestoßen, eine Tonlosigkeit in allen nicht allein sprachlichen oder musikalischen, sondern in buchstäblich sämtlichen Anstrengungen. Die Indifferenz im Ausdruck lässt sich vielleicht durch den Inhalt der Äußerung kaschieren, kann aber das Äußern selbst nicht erklären. Dieser Schrei kommt wie ein Phantomschmerz in die Welt und streicht dahin über das Gesicht einer Mondlandschaft.
     
    Mrs Fritton hat das Foto einer schönen jungen Frau an der Wand, ist aber diese schöne junge Frau auf dem Foto nie gewesen. So graziös und lieblich war sie nie, die heute völlig humorlose, verwackelte Eigenbrötlerin, die sich vor ungelösten Problemen an allen zehn Fingern die Nägel abkaut und sich die winzigen fettigen Pickelchen im Ausschnitt zu hell abdeckt. Ihr Mund ist – möglicherweise eine Folge jahrelanger Selbstbeobachtung – in einer Grimasse der Missbilligung stehengeblieben und erinnert an Paul Klees Konzept der »expressiven Linie«. Wenn sie vom Leben jemals etwas zu erwarten hatte, ist diese Zeit jedenfalls vorbei.
    Das kleine Mädchen von nebenan klingelt, sagt, »Mrs Fritton, ich habe die Madonna gesehen.«
    »Wo?«
    »Auf einem Brief.«
    »Woran hast du sie erkannt?«
    »Am Heiligenschein.«
    »Zeig.«
    Das Mädchen bringt den Umschlag. Mrs Fritton sagt:
    »Das ist keine Madonna, das ist Queen Mum. Und das um ihren Kopf ist kein Heiligenschein, sondern ein Poststempel.«
    »Hach, wie öde«, ruft das Mädchen, an dem das Wunder wieder mal vorübergegangen ist. Denn Mrs Fritton hat unbemerkt gelächelt.
     
    In der nächtlichen Flughafenhalle: Die Maschine aus Tokio ist um eine Stunde verspätet. Alle warten übermüdet. Das einzig Lebendige ist die junge Frau in der weißen, kurzärmeligen Bluse, die durch ihr Telefon lebt. Sie gestikuliert, grimassiert, begleitet das Gehörte mimisch, ohne sich eines Betrachters bewusst zu sein. Sie telefoniert ohne Pause, steht auf, holt sich telefonierend Wasser, lächelt, meint aber niemanden von denen, die sie anblickt, zupft am Saum ihrer Bluse.
    Ich erwarte den Moment, in dem sie sich mit sich selbst wird beschäftigen müssen. Ende des Telefonats. Sie angelt sich ein Döschen Pomade aus der Handtasche, fettet sich die Lippen ein. So also ist ihre Beziehung zum eigenen Körper: pragmatisch, aber geschmeidig. Sie beginnt das vierte Telefonat, klingt geschäftlich, zieht die Brauen zusammen, lässt den Blick durch den Raum schweifen, als überprüfe sie die Anwesenheit einer Schulklasse, räkelt sich auf der flexiblen Lehne, streckt
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