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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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ihn kaputt zu sehen. Ich gehe aber durch den Wald und bin froh, weil er schon früher kaputt gewesen war und weil ich doch an einem kaputten Wald Kind war, nur kaputtes Unterholz kannte und aussterbende Vögel wie den Pirol, den Wiedehopf. Meine Heimat liegt also in einem Verfallszustand der Natur, in einer Agonie der Arten. Der Traum vom Wald wie er war, von der Wiederkehr des romantischen deutschen Waldes, macht mich zum Heimatvertriebenen. Ich bin ein Kind von Rumpelstilzchen und Holzwirtschaft. Ich habe mich auch bei der Natur auf Kompromisse eingestellt. Als ich nach Jahren zurückkehrte in meinen Wald, war alles richtig. Die Fichten standen freudlos, der Waldsaum war schütter, und über ihm lag ein Herbst schön wie in Hölderlins Gedichten aus der Wahnsinnszeit.
     
    Sie war ein Mädchen und fühlte: Jetzt komme ich allmählich in das Alter für den ersten Kuss. Sie erhielt ihn. Und einige mehr. Dann viele. Sie lag im Bett und dachte: Wie lange dauert es, bis man im eigenen Leben heimisch wird? Wie lange, bis man ein Ich hinter sein Küssen bringt? Wie lange, bis man in all dem tauglich geworden ist, dann reif?
    Dann erhielt sie so dahingeküsste Küsse. Dann routinierte. Dann versiegte der Strom.
    Als sie das Alter kommen fühlt, hat sie ihren Leib stillgelegt. Da erreicht sie plötzlich wieder so ein erster Kuss. Ich bin dabei, als sie die Augen aufreißt und fragt:
    »Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«
    Als hätte sie nie ihren Knacks erlebt, fühlt sie nun, wie es in ihr taut und wieder zu fließen beginnt. Der Mann sucht ihren Duft, er nennt sie »Dulcinea«. Sie schließt die Augen wieder und sagt:
    »Ich schmelze.«
    Der Mann hält das für Lust. Er hat ja keine Ahnung.
     
    Dieser gut Sechzigjährige, dessen Finger selbstvergessen am Fransensaum des Tischdeckchens spielen, ist ein Mann, der sich immer tiefer in die Unsichtbarkeit zurückzieht, und niemand merkt es. Immer neue Schichten Firnis lassen ihn dunkeln, dann verschwinden. Niemand blickt mehr tiefer in ihn hinein, niemand treibt so viel Aufwand. Wem sollte also auffallen, dass er darunter ein Eigenleben führt, frisch und heftig?
    Die Frau an seiner Seite, zwanzig Jahre jünger, schenkt ihm ein Lächeln im Bewusstsein, dass es verschenkt ist. Er hat Bluthochdruck und die entsprechende Gesichtsfarbe. Dieser hat seine Frau auch offenbar die Tönung ihres Haars angepasst. Die Leute sagen: Die beiden passen zusammen.
    Mich blickt sie an wie eine Frau, die weiß, dass es Patina nicht ohne Trägermedium gibt. Ich soll merken, wie gerne sie der Zeit ihr Gesicht zur Verfügung stellt, denn es gibt eine Reife der Patina, die macht aus ihr das Schönste überhaupt, wie es auch einen Verfall ohne Aura gibt, der ist bloß wie eine Verfinsterung und dann wie ein Wegraffen. Und sie öffnet den Mund und spricht:
    »Schröder sagte, er habe alle meine Filme gesehen und mochte sie sehr, besonders die frühen.«
    Der Ehemann sagt leise: »Du überschätzt dich.«
    »Ich überschätze ja nicht nur mich«, erwidert sie. »Ich überschätze alle!«
     
    Das beginnende Flügelschlagen der Vögel in den Wipfeln klingt, als habe jemand zwei Hände voll Erbsen zwischen die Blätter geworfen. Der Versuch, die Jahreszeiten persönlich zu nehmen, löst sie in Lebensgeschichte auf. Da war dieser lindgrüne Hauch in den Bäumen, die sich aus dem Spätwinter in den frühen Frühling reckten, die Zeit, als die Fäustlinge zu Hause blieben, die Zeit, als die Magnolien ausschlugen, die Drosseln auf den Teppichstangen sangen und die Birken Gelb tragen wollten, die Zeit, in der man die Herbst-Drachen in den Baumkronen vergaß, und das Jahr geht, als sei der Rückzug die leiseste seiner Bewegungsformen. Es schleicht sich weg im Schnee, ganz, als müsse es das Geräusch, das es beim Kommen gemacht hat, beim Gehen nicht noch einmal machen.
     
    Sie finden sich jenseits der fünfzig, nehmen ihre zu mächtigen, gebrauchten, abgearbeiteten Körper, die bei niemandem mehr Hingabe auslösen, an und entwickeln ein eigenes Begehren gerade für sie. Es ist die Geschichte zweier Wale, die stranden, sich finden, wieder stranden, sich wieder finden. Etwas in ihrem unfrischen Blick füreinander ist reif verknallt. Wenn ihre Hände sich finden, steuern sie immerzu ihr erstes Mal an. Wieder sein, schwärmt er, und träumt den Traum dessen, der nie war. Sie hat, ganz am Anfang, diesen traurigen Satz zu ihm gesagt, der ihn weckte:
    »In der Welt der Liebe vermisst man mich nicht.« Und er
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