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Momentum

Momentum

Titel: Momentum
Autoren: Roger Willemsen
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hat, verspätet zwar, aber immer noch schlagfertig, erwidert:
    »Meinen Sie etwa, das Leben, das ich führe, gelte mir selbst?«
    So fing alles an. Als er gestorben ist, hat sie für ihren Kummer keinen Ausdruck. Aber einmal sagt sie auf einer Osterreise zu einer Frau an der Hotelbar:
    »Zum Amüsieren war das ein Mann, der fehlt.«
     
    Laura, eine sprühende, sich in Begeisterungen wie in Empörungen verzehrende Frau, arbeitet in einer Forschungsgruppe über die Heiterkeit des Alters, über jene Alten, die gegen Ende des Lebens alles freundlich betrachten und in Milde und Wohlgefallen auflösen. Sie misst sogar die Hirnströme dieser Glücklichen und isoliert die Kraftfelder ihrer sinnlosen Begeisterung. Während sie erzählt, hört ihr ein Beau zu. Dann sagt er:
    »Das Alter macht mir keine Sorgen. Da werden die Frauen, die mich heute einschüchtern, ihren Charme stillgelegt haben. Da werden die Greise, zu denen ich immer aufgesehen habe, Gleichaltrige sein. Ich werde sie alle duzen, und wir werden uns einig sein im Wissen wie im Nichtverstehen.«
    »Du träumst, du redest dir das ein«, sagt sie. »Aber in den Himmel der Worte kommen wir nicht.«
     
    Auf den Gesichtern der Greise liegt das Licht anders als auf dem der Jungen. In den Falten bricht es sich, fragmentiert seinen Fluss, macht die Haut zu Asphalt. Die Jungen dagegen sehen immer aus wie gebadet, wie im Mattglanz von »Hollywood Frost«, im Gelee der Zivilisation.
    Die Hand dieser alten Frau, so durchscheinend blau geädert sie erscheint, ist in 4711 eingelegt und könnte aus Duftschichten bestehen. Nimmt man sie in die eigene Hand, verschiebt sich die Haut über dem Gewebe wie Blütenblätter einer welken Knospe. Aber in der eigenen Hand bleibt danach der Duft so intensiv zurück, dass es ist, als habe man etwas von dieser Hand mitgenommen.
     
    In Italien kaufte ich früher immer Ansichtskarten mit dem Motiv »Kind über Geburtstagstorte«, ein Motiv, das in den fünfziger Jahren geboren wurde. Deshalb liegt noch der Wirtschaftswundergeist über den Fotos, mit all den neuen Waren, die man sich schenken konnte, die Farben zu grell und ohne Feinabstufungen. Echtes Ektachrome eben. Die Kinder sehen in ihrem Geburtstagsglück manchmal beseelt, manchmal schauspielerisch stimuliert, manchmal verlegen, vierschrötig oder sogar abwehrend aus. Ich kaufte jedes dieser alten, immer liegengebliebenen Motive, das ich fand, und liebte schon das Quietschen des Drehständers, den staubigen Film auf der Oberfläche, die Pappe dick und schmutzig und mit einer Lackschicht, die abblätterte wie Gelatine. Inzwischen hat das Leben manchem dieser Kinder wohl ein Loch in die Pauke gemacht. Sie sind steinalt oder tot. Überlebt aber hat auf den Postkarten ihre antiquarische Daseinsbegeisterung, ein eigenes Kapitel aus der Geschichte der Gefühle, ihr Jauchzen in alten Farben.
     
    Wenn in den Jahresrückblicken der Schwarz-Weiß-Teppich aus den Fotos der über das Jahr Verstorbenen erscheint, dann führt zwar Rührseligkeit die Regie, doch trotzdem erhält hier ein Werk, welches auch immer es ist, seine letzte Würdigung, und in dem einen Foto des Menschen, der hier für sein Werk steht, blitzt ein Temperament auf, eine jedem Betrachter zugewandte Seite. Man ist diesem Menschen gut, weil er diesen Akkord von Bildern zusammenklingen lässt, und man fühlt die Arbeit, die es machte, das zu sein: die Lächelnde, der Scheiternde, Ringende, die Peripherie unserer Aufmerksamkeit Abschreitende, Unterhaltende, die sie jetzt gerade, auf ihre Weise, zum letzten Mal sind.
     
    Vier Menschen in einem Gastraum können den Blick vom Fernsehschirm nicht wenden. Die ehrgeizige Moderatorin sagt gerade mit der Stimme, die Bedeutungsvolles vorwegnimmt: »Alter hat ja immer auch mit lange her zu tun.« Alle vier stoßen sich von dem törichten Satz ab und kommen auf sich selbst zurück.
    Der Alte an meiner Seite sagt:
    »Große Klappe, kleines Innenleben. Wenn ich dir sage, ich altere gern, dann heißt das, weil ich gern die Welt verbrauche.«
    »Und Sie sind sich bewusst, dass jetzt jede Phantasie einen Schwung besitzt, mit dem sie nicht zurückkommen wird?«
    Der Junge am Nebentisch sagt zu seinem Mädchen:
    »Küss mich.«
    Sie erwidert: »Warum?«
    Ihm fällt keine Antwort ein. Also küsst sie ihn. Anschließend fragt sie:
    »Bist du traurig oder langweilst du dich bloß?«
    »Wie soll ich mich langweilen, wenn ich traurig bin?«
    Dann tritt ein hübsches Gesicht in den Raum, und alle sind
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